Hinter unserem Haus führt ein Gleis entlang. Manchmal fahren dort Güterzüge vorbei, als Kinder standen wir immer fasziniert im Garten, haben all unsere Spiele unterbrochen, um wie versteinerte Statuen die Waggons des Zuges zu zählen. Ich weiß noch, dass es meistens 32 waren. Warum genau diese Anzahl, keine Ahnung. Ich weiß noch genau, wie sich das Grollen des herannahenden Zuges in der Ferne anhört, wie es ihn ankündigt, bevor man überhaupt weiß, dass es soweit ist. Ich weiß noch genau, dass wir am Anfang oft zum Fenster gerannt sind, um unsere Hände an die Scheibe zu drücken und ihm beim Vorbeisausen zuzusehen.
Jetzt sitze ich in der Küche und starre aus dem Fenster. Lausche dem vertrauten Rattern des Zuges, das meine Kindheit begleitet hat und die Wände vibrieren lässt. Deswegen haben wir in den meisten Räumen auch Tapete, weil sie die Risse verdeckt, die durch die ständigen Erschütterungen entstehen. Ich zähle keine Waggons, ich sehe ihnen bloß zu. Bin selbst ganz still, spüre eine tiefe Ruhe an diesem Morgen in mir und beobachte, wie der graue Zug hinter unserem Gartenzaun entlangbrettert. Manchmal vergesse ich sogar, dass dort ein Gleis hinter unserem Zaun liegt. Es ist schon so normal. Und dann ruft mir das Dröhnen des Zuges wieder seine Anwesenheit ins Gedächtnis und alle unterbrechen kurz ihre Gespräche, um die paar Sekunden des Lärms abzuwarten.
Ich schaue ihm zu. Beobachte die einzelnen Waggons. Wie es wohl wäre einfach aufzuspringen? Die Sprossen einer der Leitern an den Waggonwänden zu packen und sich auf diese kleine Plattform zwischen zwei Waggons zu schwingen? Einfach irgendwohin zu fahren, egal wohin. Ohne es zu wissen, ohne Ziel. Einfach fahren. Den Wind spüren in den Haaren und im Gesicht, begleitet vom ewigen Rattern des Zuges auf den Schienen, dem Klang meiner Kindheit und diesem kribbeligen Gefühl von Freiheit und Ungewissheit. Wie das wohl wäre?
Wieso sehnt sich etwas in mir danach, wenn ich doch eigentlich schon so frei bin wie man es in unserer Welt eben sein kann? Aufgewachsen mit allem Notwendigen in einer Welt voller Möglichkeiten und Chancen.
Es gibt keine wirklichen, keine realen Grenzen um mich herum, keine Mauern und keine Zäune, die ich anfassen kann, die mir den Weg versperren. Aufgewachsen in einer Welt, in der ich alles sein, alles denken und alles sagen darf. In der ich mich kleiden, lieben und Entscheidungen treffen kann wie ich möchte.
Wie es wohl wäre einfach aufzuspringen, einfach weg sein? Alles hinter mir zu lassen, das mich bis dahin zu dem Menschen gemacht hat, der ich bin. Meine Familie, meine Freunde, meine Vergangenheit, meine Leidenschaften, meinen Alltag, meine Pläne. Was würde dann wohl noch bleiben? Wer wäre ich dann wohl, wenn das alles nicht mehr da ist, um mich zu definieren? Wenn da nur noch ich bin. Pur und ohne das Leben, das mich bis jetzt geprägt hat. Was für ein Mensch wäre ich dann wohl und was für einer würde ich sein wollen? Losgebunden von all dem, was ich kenne, was mich beeinflusst, was mir Halt oder auch mal eine Richtung gibt. Wer wäre ich, wenn ich aufspringen würde?
Aufgewachsen in einer Welt, die voller Freiheiten und trotzdem von Regeln, Gesetzen, Normen und Werten, Idealen und Vorurteilen geprägt ist, weil es ganz ohne eben auch nicht geht. Wie es wohl wäre?, frage ich mich, während ich dort am Küchentisch sitze und mir vorstelle, die Arme auszubreiten, dort ganz oben auf dem Waggondach und zu spüren, wie der Fahrtwind an meinen Klamotten reißt. Wie er mich nach hinten drückt, während ich vorwärts will, dem Ende der Gleise entgegen. Freiheit.
Und während ich die Waggons betrachte, ihnen nachsehe, frage ich mich, was das eigentlich für mich bedeutet. Freiheit. Denn irgendwie habe ich das Glück, dass alle Grenzen nur in meinem Kopf existieren, alle Mauern von mir eingerissen werden können, wenn ich denke, ich stünde vor einer und Zäune in unserer Welt hier an irgendeiner Stelle immer ein Tor haben, dessen Schlüssel man nur finden muss.
Und gleichzeitig frage ich mich, ob es vielleicht gar nicht so einfach ist zu wissen, was einem selbst Freiheit bedeutet, wenn man in ihr aufgewachsen ist?
Nachdem ich irgendwie anfangs echt grinsen musste als ich mir vorgestellt habe, wie du einfach nur in einem Industriegebiet nicht weit entfernt landest. (Ich hoffe, du nimmst mir das nicht böse 😉 ), habe ich es verstanden und mich drauf eingelassen. Das ist ein wirklich spannender Gedanke sich vorzustellen, wer man wäre, wenn das eben alles nicht um einen herum wäre… über den ich bisher nie so richtig nachgedacht habe. Es ist echt cool, wie du das Bild durch die Sache mit dem Zug verbindest. Schöner Text!
Natürlich nehm ich dir das nicht böse 😉 Und ja ich weiß natürlich, wo der Zug in Wirklichkeit hinfährt, haha. Nenn es künstlerische Freiheit oder einfach ne Metapher 😉
Ja ich frage mich das auch immer noch, bzw denke drüber nach, wer man dann wohl wäre, wenn alles, was einen prägt nicht mehr da ist… Und ob man das überhaupt möchte, also dass alles weg ist, was dich bis dahin ausgemacht hat, zumindest alles Äußere.
Ich muss dazu sagen, dass ich das Aufspringen an sich gar nicht als Metapher meine, sondern die Vorstellung wirklich faszinierend finde, so zu reisen. In Indien machen viele das ja auch so, zugegebenermaßen, weil sie es müssen.
Danke für deinen Kommentar, Jojo! Hab mich sehr gefreut 😀
Es erscheint irgendwie abstrakt, sich vorzustellen im Innersten, in dem Bereich, den man niemals wirklich beschreiben oder ausdrücken könnte, der viel zu emotional, vielschichtig, wechselhaft und gleichzeitig beständig für eine treffende Beschreibung mit Worten ist (zumindest wüsste ich für mich nicht wie), den man wahrscheinlich selbst nie als Ganzes begreifen kann, einfach anders zu sein. Wie viel von dem, was wir sind, ist vielleicht schon genetisch gegeben und wie viel durch Einflüsse unsere Umwelt geformt? Was ist es eigentlich überhaupt, was wir als unser Selbst begreifen?
Wenn ich ehrlich bin glaube ich, dass ich Angst hätte meine Identität zu verlieren, komplett frei und anders zu sein, wobei diese Angst, in dem Moment, in dem ich anders bin, wahrscheinlich vollkommen surreal wäre, weil ich gar nicht mehr wüsste, wie es war, mein vorheriges Ich zu sein. Das ist ein bisschen verstrudelt irgendwie (das ist kein richtiges Wort, aber es beschreibt irgendwie meine Emotionen, wenn ich darüber nachdenke :D).
Freiheit ist ein sehr großes Wort und ich glaube es hilft uns im Alltag sehr, dass wir niemals wirklich frei sind, auch wenn viele der Grenzen Konstrukte unserer eigenen Persönlichkeit sind. Könnte man mit wahrhaftiger Freiheit überhaupt umgehen? Ich weiß es nicht.
Es ist immer wieder eine Freude so einen schönen Text zu lesen und sich ein bisschen in Gedanken zu verlieren, vielen Dank 🙂
Liebe Grüße, Ari
Hey Ari, danke für deinen Kommentar, der mich echt zum Nachdenken anregt! 😀
Du meinst, du hättest vlt Angst deine Identität zu verlieren… Dabei stellt sich doch auch die Frage, was ist Identität eigentlich? Ist es genau das, was ich beschrieben habe, also diese äußeren Faktoren, unser Umfeld und unsere gesammelten Erfahrungen, die unsere Identität bestimmen oder gehört dazu noch viel mehr, so wie du gesagt hast, evtl genetische Faktoren?
Und wäre es so schlimm seine Identität zu verlieren? Sind wir nicht in der Lage unsere Identität selbst neu zu erfinden oder sind wir eingegrenzt in unseren Möglichkeiten, weil wir zu stark durch unsere Kindheit und Erfahrungen geprägt und gemünzt sind? Können wir deshalb unsere Identität überhaupt verlieren (außer durch nen kompletten Gedächtnisverlust), selbst wenn wir uns von allem lösen und einfach „abhauen“ würden?
Man sagt ja immer, man kann sich neu erfinden, aber trifft das nicht nur in einem begrenzten Rahmen zu? Schließlich kann man ja nicht von heut auf Morgen ein anderer komplett neuer Mensch werden, oder?
Ich finde, verstrudelt beschreibt es echt sehr gut `:D so fühle ich mich auch gerade ^^
Freiheit ist wirklich ein sehr großes Wort und ich traue mich auch gar nicht, es so richtig zu definieren. Ich glaube auch, dass es ganu wie zum Beispiel die Liebe oder ein Gefühl von Erfüllung für jeden Menschen etwas anderes bedeuten kann. Manch einer fühlt sich auf der Spitze eines Berges frei, ein anderer, wenn er endlich mal ausschlafen kann und ein dritter vlt, wenn er endlich das gesagt hat, was er schon immer sagen wollte, sich aber nie getraut hat. Ich glaube auch, dass wahrhaftige Freiheit, so wie du sie nennst, vlt gar nicht zu hundert Prozent möglich ist. Aber wahrscheinlich kommt es hier auch wieder auf die Definition dessen drauf an…
Ich finde deinen Gedanken sehr schön, dass es uns im Alltag hilft, eben nicht komplett frei zu sein (diese positive Perspektive gefällt mir sehr), sondern Regeln und Ähnliches zu haben, an dem wir uns orientieren können. Ich glaube Struktur und Ordnung zählen auch zu solchen Dingen und manch einer bracuht es vlt mehr als ein anderer. Ich frage mich nur, wieso das so ist, schließlich befanden sich unsere Vorfahren in dem, was man vlt als den am nächsten kommenden Freiheitszustand bezeichnen kann, die Jäger und Sammler, an nichts gebunden außer an die Natur. Aber ich glaube, es liegt in unseren Genen, einem Anführer, einer Struktur zu folgen, uns auch mal den Weg vorgeben zu lassen, uns an unserer Umwelt zu orientieren und auch an der Gruppe und vlt kommt genau daher dann dieser Gedanke von dir, dass es uns im Alltag hilft, niemals wirklich frei zu sein. Schließlich waren wir nie wirkliche Einzelkämpfer.
Was wäre, wenn nichts von dem wäre, was mich geformt hat? Oder anders gefragt, was bedeutet dieses „Ich“? Ich stelle mal eine Gegenfrage: Was wäre, wenn es dieses „Ich“ gar nicht geben würde?
Vielleicht entsteht das „Ich“ erst durch Erfahrungen, vielleicht entsteht es erst durch das Leben des Lebens. Wir sind durch unsere Gene vorgeprägt das stimmt, aber ich glaube nicht wie Arian, dass dieses „Ich“ ein Bereich von komplexer emotionaler Struktur ist, der unabhängig existiert. Wenn das wirklich so wäre, würde das Wort Freiheit dann überhaupt noch irgendwas bedeuten? Wären dann wir nicht eher Sklaven einer inneren Struktur, die uns zu Sachen zwingt?
Wie wollen wir Freiheit erleben? Freiheit zu allem, dass wir also alles machen können was wir wollen, oder Freiheit von allem, dass wir keine Schranken haben, dass wir nicht schon im Vorhinein durch etwas auf eine Bahn gesetzt werden, von der wir nicht mehr entkommen können. Für mich ist das eine aktive Entscheidung die von einem verlangt wird, dass man sich immer wieder in Frage stellt und damit auch sein ganzes Ich. Wenn ich darüber nachdenke wer ich bin, habe ich immer das Gefühl, dass ich eigentlich gerade darüber nachdenke, wer ich war. Vielleicht entsteht in jedem Moment ein neues Ich, welches an den Platz des alten rückt.
Wir dürfen uns nicht auf Grundfeste stützen, wenn wir wirklich frei sein wollen, denn dann werden wir blind für andere Wege. Was schert es mich, was gestern für mich galt, wenn ich es doch heute schon einreißen und was neues erschaffen kann. Ja, es ist eine Existenzangst die dabei entsteht und diese kann nur bezwungen werden durch das ständige kämpfen gegen diese Angst und durch die Liebe, denn Liebe hat die Kraft diese Angst für einen kurzen Moment von einem zu nehmen, für diesen Moment hat man die Angst besiegt und vielleicht lebt man nur dann in wirklicher Freiheit.
Ich finde den Gedanken interessant, dass man immer darüber nachdenkt wer man war, wenn man darüber nachdenkt, wer man ist, weil man sich in jedem neuen Moment neu erfindet sozusagen. Und ich glaube dass wir extreme Macht darüber haben, zu bestimmen wer wir sind, weil uns unsere Gedanken und unsere Denkweise/muster zu dem machen der wir sind. Diese zu durchbrechen oder zu verändern, ist, glaube ich mit am Schwersten, aber gerade deswegen ist es so wichtig, sich selbst zu reflektieren. Sich selbst und seine Handlungen. Damit man sich selbst jeden Tag, jeden Moment ein Stück besser kennenlernt. Und ich muss auch sagen, dass es mir eher so vorkommt, als würde man nie wirklich wissen können wer man ist, weil man sich selbst entdeckt, sich in neuen Situationen vielleicht ganz anders kennenlernt, als man es bisher getan hat, sich anders verhält, so wie man vorher nie gedacht hätte. Und das ist irgendwie das Spannende und Aufregende daran, deswegen liebe ich es auch Neues auszuprobieren und zu erleben, neugierig zu sein und zu bleiben, weil man so immer weiter wächst und ja es auch Erfahrungen sind, die uns prägen. Und man weiß schließlich nie, ob man die Herausforderung packt, wenn man es nicht ausprobiert, nicht wagt. Und vielleicht ist es genau das, was du mit dem Leben des Lebens und das dadurch erst unser Ich entsteht, meinst.
Danke für deinen Kommentar, Bennet 🙂
Ich sehe in deiner Antwort so viel sich widersprechendes. Auf der einen Seite meinst du, dass man sich besser kennenlernen kann, also sagst du, dass es ein Ich gibt, welches feststeht und auf der anderen Seite sprichst du in deinem Text „Unbeschrieben beschrieben“ eigentlich komplett konträr dazu. Ich bleibe mal bei der Metapher des Blattes. Mein Charakter ist meine Farbe und mit diesem male ich und am Ende kommt ein Gemälde raus. Aber dieses Gemälde kann ich genauso gut jeder Zeit löschen und was neues an deren Stelle setzen. Du bist in dem Moment Erschaffer und Zerstörer. Ich bin wirklich der Überzeugung, dass es weniger ein kennenlernen als ein erneuern ist.
Du weißt, dass ich deine Texte unheimlich schätze, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass du die Wörter nicht im Griff hast, sondern die Wörter dich. Und manchmal fehlt ewas, was aus den Wörtern Worte macht.