Ich sehe in diese Augen, diese Augen, die ich schon so lange kenne und deren Form und Blick immer etwas Trauriges, Melancholisches haben, selbst dann, wenn sie lächeln. Selbst dann scheint man diesen traurigen Funken in der Tiefe zu erahnen. Ich betrachte ihre Farbe, dieses Braun und das leichte kaum erkennbare Grün, die Wimpern und die dunklen Schatten unter den Augen, die immer mal wieder dort auftauchen. Mal stärker, mal schwächer. Sommersprossen auf der Nase, ganz wenig und winzig, eigentlich gar nicht wirklich da, aber irgendwie auch schon. Der Schwung der Oberlippe, die kleine Narbe unter der Nase, die niemand kennt außer ich, von der niemand weiß, dass sie da ist. Ich neige den Kopf, drehe ihn, fahre mit der Fingerspitze über die Augenbraue, unter der ein Leberfleck hervorblitzt, kaum sichtbar, nur ich weiß, dass er da ist. Nur ich. Da ist dieser Zipfel an meinem Ohr, eine Asymmetrie, die dem anderen fehlt. Als hätte man dort ein Stück entfernt und es an das andere gepackt. Ich betrachte die Linie meines Kiefers, die Form meiner Stirn, gleite mit dem Finger über den Huckel meiner Nase, spüre die scharfkantige Stelle unter meiner Haut. Die einzige gebrochene Stelle meines Körpers. Asymmetrisch. Unperfekt. Es sind meine Augen, die mich anblicken, die Augen, die ich schon am längsten kenne, deren Trauriges ich erblicke, wenn ich in den Spiegel schaue und die dennoch gerne lächeln. Mein Gesicht hat etwas Ernstes, etwas Melancholisches, etwas, das nicht nach außen strahlt und einem Dauergrinsen gleicht. Vielleicht sogar etwas Nachdenkliches. Mir wird oft gesagt, ich solle nicht so traurig gucken, nicht so ernst, nicht so wie ich eben gucke. Nicht so wie mein Gesicht eben ist. Wie ich. Aber es ist okay. Ich lächle gerne, ich lache gerne, aber eben nicht immer. Manchmal gibt es nichts zu lachen, nichts zu lächeln und das ist okay. Ich beobachte den Schwung meiner Augenbrauen, die eine, die etwas kürzer ist als die andere, weil ich beim Zupfen mal irgendwie zu unfähig war. Ich schaue mich an und frage mich, ob das schon mal jemandem aufgefallen ist oder ob nur ich das weiß. Nur ich, obwohl wir nur durch Spiegel wissen welches Lächeln, welche Augen, welche Nase wir eigentlich tragen. Asymmetrisch. Unperfekt. Meine Augenbrauen, die sich sehr dicht über den Augen entlangziehen, meine Augen, die sehr tief im Schädel liegen, meine Lippe, deren Linie eine richtige Welle bildet. Schiefe Nase, Schatten unter den Augen, ungleiche Ohren, verschiedene Augenbrauen, Haut, die bedeckt ist mit Narben und Leberflecken. Asymmetrie. Und ich stehe hier vor diesem Spiegel, drehe den Kopf, neige ihn, stehe ganz dicht davor, um kein Detail zu verpassen. Schaue mir selbst so tief in die Augen, wie ich es sonst nur bei anderen tue. Versuche in ihnen zu lesen, zu erkennen, was sie erzählen, das ich selbst gar nicht weiß. Wie kommt es, dass wir darüber schreiben, was wir alles in den Augen von anderen erkennen, aber nicht darüber, was wir in unseren eigenen sehen? Texte, die von Liebe und Leidenschaft erzählen, von Bewunderung für einen anderen Menschen, Texte, die von dessen Augen sprechen, von Wärme und Tiefe, von Emotionen und Blicken. Wir schauen jeden Tag anderen Menschen ins Gesicht, studieren dessen Eigenheiten, bewundern die Augenfarbe, den Schwung der Lippen oder die Art wie derjenige redet. Wir sehen sie. Wir nehmen sie wahr. Wir betrachten die Gesichter der Menschen, die wir lieben, wir verbinden so viel mit diesen ganz speziellen Augen, die nicht von Traurigkeit, sondern vielleicht von Freude oder Sanftmut erzählen. Und wir erblicken auch Narben und Flecken, Pickel und Haare und Sommersprossen. Und es ist okay, es ist normal. Asymmetrie. Und ich frage mich, ob ich nicht manches Gesicht besser als mein eigenes kenne? Oder schaut man sich selbst doch mehr ins Gesicht als den anderen? Denen, denen wir jeden Tag gegenüberstehen? Betrachten wir sie nicht genauer als uns selbst? Scheuen wir nicht einen zu langen, zu tiefen Blick in unsere eigenen Augen, weil wir uns fragen, was wir dann sehen, welche Gedanken wir dann haben werden? Ich blicke in mein Gesicht, schaue tief in meine eigenen Augen und sehe Traurigkeit und Melancholie. Ich weiß, wieso manche Menschen sagen, ich würde immer so traurig schauen, obwohl ich nicht traurig bin. Das bin ich. Das ist mein Gesicht. Ich habe Traurigkeit in den Augen und Melancholie im Blick. Ernsthaftigkeit und Nachdenklichkeit spricht aus meinen Gesichtszügen. Das bin ich. Und trotzdem erkenne ich noch so viel mehr. So viel mehr als nur das. Und ich weiß, wie ich aussehe wenn ich lächle, weiß, wie sich meine Augen zusammenkneifen, wenn ich lache und wie meine Lippen sich verziehen, wenn ich weine. Ich weiß, dass mein Gesicht so viel mehr als nur traurig ist, aber dass es ein Teil davon ist. Ein Teil von mir. Ein Mädchen mit traurigen lächelnden Augen. Ein Mädchen mit ungleichen Gesichtszügen, mit Asymmetrie in kleinen Details. Details, die man kaum wahrnimmt, von denen ich aber weiß, dass sie da sind. Und manchmal frage ich mich, was andere in meinen Augen sehen, was sie in meinem Gesicht erblicken, frage mich, von was es erzählt, wenn ich selbst seinen Geschichten nicht lauschen kann. Wir alle tragen die Spuren unserer Leben dort, wo sie von allen gesehen werden. Wir können die Emotionen in unseren Augen, die Narben auf unserer Haut, die Details unserer Identität nicht vor anderen verbergen. Wir alle sind asymmetrisch, ungleich, unperfekt. Wir alle sind anders.
Ob wir wirklich selbst wissen, wie wir aussehen, wenn wir lachen, wenn wir weinen, vor Wut schreien oder vor Peinlichkeit rot werden? Ob wir wissen, wie wir aussehen, wenn wir flirten oder uns schämen, wenn wir einen eisernen Entschluss fassen oder uns entschuldigen? Wie wäre es in einer Welt ohne Spiegel? Wie würde es sein, sein eigenes Gesicht nie gesehen, der Geschichte in den eigenen Augen nie gelauscht zu haben? Was wäre anders?
Ich sehe tagtäglich die Gesichter von anderen, von Menschen, die ich liebe, von Menschen, die alle schön sind auf ihre ganz eigene Art und Weise. Menschen, die ihr Leben und ihre Geschichte, ihre Persönlichkeit im Gesicht tragen, die Augen haben voller Emotionen und ungleichen Details, die mir nie wirklich bewusst auffallen und wenn, dann, weil sie die Individualität noch individueller, noch einzigartiger machen. Wie ein weiterer Strich auf einem Kunstwerk.
Jetzt stehe ich hier vor diesem Spiegel und sehe mich. Meine Augen, meine Nase, meine Lippen, meine Augenbrauen, meine Ohren, meine Sommersprossen, meine Schatten.
Und auch wenn es nicht jeden Tag so ist, lächle ich.
Du auch?
