Die kalte Luft scheint meine Gehirnzellen zu wecken, bringt alles Eingeschlafene und Taube in Schwung, rüttelt mich auf und lässt meine Schritte zügiger werden. Der Himmel ist heute wieder in einem stumpfen Grau gefärbt, die dunklen knorrigen Finger der Bäume heben sich davor ab, als ich den Kopf in den Nacken lege. Ich komme an einer Kirche vorbei, deren hellgraues Gemäuer sich in die Höhe schraubt. Sie sieht nicht aus wie eine Kirche, viel mehr wie eine alte Burg, hier inmitten meines Bezirks zwischen einem Kindergarten und Wohnhäusern und ist mit einer steinernen Statue der heiligen Maria verziert. Hinter mir, neben dem Turm der Kirche sticht die Sonne zwischen der Wolkendecke hervor, verschleiert hinter dem Grau blinzelt sie mich an, lässt den Himmel glühen, von innen heraus. Es ist Nachmittag, es dämmert.
Ich bleibe stehen und sehe ihr entgegen, bevor ich meinen Weg fortsetze, die Kälte im Gesicht und die Hände in den Taschen.
Es ist nicht so, dass zu wenig Menschen um mich sind. Dass mir das fehlen würde. Ich sehe jeden Tag Menschen auf dem Bildschirm meines Laptops oder in den Fluren des Ladens, in dem ich arbeite.
Ich sehe Menschen in der Bahn und im Supermarkt, höre ihre Stimmen am Telefon und lese ihre Nachrichten auf meinem Handy.
Und es ist nicht so, dass zu wenig Menschen um mich sind, dass es das ist, was ich vermisse.
Es geht viel mehr um Momente wie dieser in unserer Wohnung vorhin. Zusammen auf dem Küchenboden zu sitzen, Gin Tonic zu trinken und zu spüren wie der Alkohol und die Worte zwischen uns Wärme in uns auslösen. Es geht um Momente, in denen wir das Leben spüren, schmecken wie es in die Lunge strömt, in denen wir fühlen wie es uns ausfüllt, wie es in jede unserer Zellen fließt. In denen Nächte zum Tag werden und all die Dunkelheit so warm und kuschlig erscheint, Nächte, in denen alles möglich ist, in denen die aufgehende Sonne in einem anderen Universum stattfindet, wenn das Leben uns beschwipst, wir trunken von Freundschaft und dem gemeinsamen Augenblick durch die Straßen taumeln, so als würde nichts wichtiger sein, als die Menschen um uns und die Nähe, die man zu ihnen empfindet.
Es fehlen diese langen Gespräche am Abend, mitten in der Nacht, wenn Menschen zusammensitzen und über das Leben und dessen Tiefe sinnieren. Es fehlen hitzige Diskussionen, in denen Meinungen aufeinanderprallen, Fetzen und so mancher Spucketropfen fliegt, in denen Gedankenkarusells angeschubst und so manch einer an seiner gedanklich verlorenen Bushaltestelle abgeholt wird.
Es fehlen Momente, in denen man zusammen lacht und sich umarmt, zufällig die Schulter des anderen berührt, den Arm um ihn legt, dicht gedrängt in Clubs tanzt, die schwitzige Haut von anderen an seiner eigenen spürt und nichts wichtig ist, außer das hier, genau das hier, genau jetzt.
Es fehlen unsere Pläne und Vorhaben, Ausflüge, die wir gemeinsam schmieden, Verabredungen, die wir treffen, neue Unternehmungen und Input, der uns aus unserem Alltag zieht, uns flüchten und kurz woanders sein lässt: im Kopf, im Herzen, zusammen.
Es fehlt Nähe.
Ich spüre wie wir einander wie die Luft zum Atmen brauchen, wie sehr uns diese flüchtigen Umarmungen und freundlichen Blicke fehlen.
Ich spüre, wie wir Leidenschaft vermissen. Leidenschaft für Menschen, für Taten und Hobbies, für Momente und die Umgebung um uns.
Es ist als würde ein großer schwerer Stein auf den Gemütern lasten, als wäre die Luft aus dem großen runden Luftballon bald entwichen, als wäre unser Kontingent an schönen warmen Erinnerungen bald aufgebraucht, das wir alle in unseren Herzen tragen und von dem wir an so manch einem deprimierenden einsamen Tag zehren. Ich spüre die Ungeduld hinter den Schädelwänden der Menschen pulsieren, spüre wie die Motivation mit den letzten Sonnenstrahlen immer mehr geschwunden ist und uns Kälte und Dunkelheit mit ihren offenen Armen empfängt. Und wie jedes Jahr kämpfen die Menschen gegen die düstere Stimmung an, machen dort Licht, wo keins ist, versuchen Kälte mit Tee und Kerzen, warmen Zimmern und dicken Socken zu vertreiben. Aber genau zu der Zeit, in der sich sonst alle Menschen dicht aneinander kuscheln, um sich warm zu halten, schwebt immer diese Frage im Kopf herum, immer dieses schlechte Gewissen, das uns plagt. Immer dieser große schwere Stein, der auf das Gemüt drückt, immer die Frage danach, was geht und was nicht, was darf ich und was darf ich nicht.
So als müsse man sich rechtfertigen für die menschliche Nähe, die man braucht, für diesen Drang nicht allein zu sein, auch mal rauszugehen, das traute Heim zu verlassen, auszubrechen aus dieser Blase, in der wir alle stecken und -ja- manchmal fast ersticken.
Und jeder Gang zum Supermarkt wird wie ein Clubbesuch: es werden Outfits ausgewählt, um mal keine Jogginghose anzuhaben, vor dem Laden steht man an, bis man endlich eintreten darf, geht mit einem Nicken am Türsteher vorbei und versucht drinnen zwischen den engen Gängen dem Gedränge zu entkommen, um sich die besten Plätze vor dem Regal zu sichern.
Es ist wie eine Flucht aus diesem Raum, in dem sich mein ganzes Leben abspielt, in dem ich die Stunden meiner Tage verbringe, Menschen auf meinem Bildschirm anstarre, ihnen zuhöre und rede, aber nicht wirklich rede, weil manchmal sind da nur schwarze Flächen, die man anspricht.
Ich schreibe diese Texte an diesem Schreibtisch, ich arbeite an diesem Schreibtisch, ich lese Dinge für die Uni und für mich selbst, ich bastle Weihnachtsgeschenke an diesem Schreibtisch und esse sogar hier, wenn zwischen zwei Online Seminaren nicht genug Zeit dafür bleibt.
Hier ist keine Ruhe für mich, denn immer wenn ich liege, könnte ich ja sitzen und Uni machen, schließlich ist immer was zu tun und immer was zu lesen und immer was abzugeben.
Immer was da, das produktiv wäre im Gegensatz zu Netflix oder einfach nur mal liegen und nichts tun.
Und zwischendurch trete ich auf den Balkon, ziehe eine Nase frische Luft in mein Gehirn, laufe durch die Wohnung, als würde ich gerade den Raum im Unigebäude wechseln oder mit Bahn fahren, ich koche Essen und schiebe es Tage später in die Mikrowelle, als würde ich es mir aus der Mensa holen, nur ohne Menschen um mich, ohne Gespräche und Kontakt, ohne Soziales, nur Stille und ich, und wieder dieser Bildschirm, der mich abwartend ansieht.
Und meine Motivation?
Meine Motivation flüchtet manchmal vor mir zum Supermarkt und freut sich über eine neue Sorte Hummus im Regal und den Rollrasen bei der Straße, die vor kurzem noch eine Baustelle war, einfach weil es mal was Neues ist, was anderes.
Und da es schon um 15:00 dunkel wird, wenn ich noch an meinem Schreibtisch hocke, mit trockenen Augen und mein Handy heiß ist von meinem WhatsApp Gebrauch, um wenigstens etwas sozialen Austausch während eines vierstündigen Laberseminars zu haben, fahre ich erst in der Düsternis in mehrere Lagen eingepackt mit dem Rad zum Park, um dort in der Finsternis mit Kumpels Sport zu machen, gemeinsam im dem kalten Wind zu frieren und dann wieder heim zu fahren in diesen immer gleichen Raum, den ich liebe, aber gerade auch manchmal ein bisschen hasse.
Dieser Raum, der mein Leben ist und so sehr erfüllt mit meiner Präsenz, dass ich es dort drinnen selbst fast nicht mehr aushalte.
Und dann gibt es diese Momente, die wieder alles besser machen.
Momente, in denen die ersten Sonnenstrahlen die backsteinfarbenden Dächer anmalen, wenn ich die Augen aufschlage und plötzlich so viel Energie in mir ist.
Momente, in denen ich im Park trainiere, Menschen kennenlerne, draußen an der Luft in der Kälte bin und sie gar nicht richtig spüre, weil es in mir warm ist.
Momente, in denen ich die Zeit und meine Aufgaben vergesse und auch die Situation, in der wir stecken und die schon so normal, so zum Alltag geworden ist.
Momente, in denen ich wieder das pure Leben spüre, wenn ich durch den Wald renne, deren kahle Bäume vom Sonnenlicht angestrahlt werden oder auf dem Longboard über den Asphalt cruise, den Sonnenuntergang im Rücken. Und dann sehe ich wieder ihre Gesichter auf meinem Bildschirm, die mich angrinsen und kurz aus meinem Zimmer entführen, wir lachen und albern rum, regen uns auf und hören zu: Einander, dem Leben und uns selbst. Hier fühle ich mich geborgen, hier fühle ich mich lebendig, so als würde Energie in jede meiner Zellen fließen, als würde Euphorie in mir explodieren und Stunden mit ihnen mir so viel Kraft geben, weil wir lachen und reden, Eigenschaften und Leidenschaften teilen.
Weil wir wie eine kleine Familie sind, nur ausgesucht, nur anders.
Und dann trete ich wieder auf meinen Balkon, sauge die kalte frische Luft tief in meine Lunge, betrachte den grauen Himmel, der morgen vielleicht schon wieder blau sein wird und setze mich erneut an meinen Schreibtisch. Den Schreibtisch, den ich liebe, den ich mit meinen eigenen Händen zusammengeschustert habe und der so zentral für mich ist.
Ich klappe den Laptop auf und weiß was zu tun ist, schreibe To-Do Listen und hake Dinge darauf ab, weil ich es liebe. Studieren, lernen, mich weiterzubilden, ein Ziel zu haben, einen Plan und weil ich dankbar bin. Dankbar, hier sitzen zu dürfen, das machen zu können, was ich will, einen Balkon zu haben und eine Mitbewohnerin, mit der ich auf dem Küchenboden Gin trinken und mich auskotzen kann.
Dankbar für Freunde, mit denen ich verrückte neue Sportarten erfinden und zusammen auf der Couch gammeln kann.
Momente wie diese fühlen sich immer so lebendig an, so nah, so echt, so pur. Dann versteh ich jedes Mal aufs Neue, dass das hier mein Leben ist, genau so und nicht anders und nur ich entscheide, ob ich das Beste aus den jetzigen Möglichkeiten mache oder nicht.
Und wenn der Himmel mal wieder grau ist, wenn da so viel Unruhe und Druck in mir ist, so viel, dass ich nicht ordnen kann, dann weiß ich trotzdem, dass mich irgendwann wieder die Sonne wecken wird.
Weil es so ist, das Leben.