Lasst uns …

Es ist Sonntag und ich auf meinem Balkon. Sonne im Gesicht und gelbbraune Blätter neben mir.
Sie rascheln. Sie rauschen. Sie flüstern.
Die Baumkronen leuchten golden in der schwächer werdenden Herbstsonne, ihre dunklen Stämme und Äste stechen immer deutlicher hervor, so als würden sie altern und die Adern, durch die die Lebenskraft gepumpt wird, hervortreten. Unten auf der Straße laufen Menschen entlang, Stimmen schleichen umher, in der Ferne rumpelt eine Bahn.
Ich spüre nichts von dieser Unsicherheit. Von der Ungewissheit, die nun schon seit ein paar Wochen wieder stärker durch Zahlen und Statistiken, Maßnahmen und Interviews im Fernsehen ausgelöst wird. Während des Sommers war es fast so, als wäre alles wieder normal. Ich entzog mich den Nachrichten, schien meinen Geist befreien zu wollen von all dem Negativen, all dem Ungewissen, das trotzdem immer irgendwo im Hintergrund war. Im Sommer schien es so, als würden die Menschen aufatmen nach diesen ersten Monaten, die alle geschockt und erschüttert, verunsichert hatten. Corona hat auch mich verunsichert, verunsichert immer noch, lässt Zukünftiges ungewisser und Gegenwärtiges flüchtiger werden und trotzdem hat es mich mehr als das gelehrt, dass Ruhe und Innehalten so viel kraftvoller als Leistung und Tempo sind.
Es hat uns gezwungen den Fokus auf das zu legen, was wir haben, nicht auf das, was wir noch wollen und das plötzlich so weit weg erscheint, weil es durch all die Einschränkungen außerhalb unserer Reichweite ist. Es hat uns gezwungen flexibler zu werden, spontaner, fokussierter auf das, was wir im Jetzt tun können, um glücklich zu sein. Es hat uns gezwungen, uns mit uns selbst zu beschäftigen, hat uns Ruhe geschenkt, die für viele oft schwieriger zu fühlen und zu leben ist, als Tempo und unterwegs sein. Denn dann, wenn alles in einem und um einen zum Erliegen kommt, wenn es keinen Impuls, keinen äußeren Reiz mehr gibt, den unser Gehirn auseinandernehmen kann, dann scheint es herunterzufahren, beginnt zu verarbeiten, lässt Dinge und Fragen auftauchen, für die sonst kein Raum, keine Zeit waren.
Und durch die Einschränkungen scheinen viele Dinge für mich eine tiefere Bedeutung zu kriegen. Dinge, die mir schon immer wichtig waren, weil sie mich glücklich machen, sind nun nicht mehr selbstverständlich und bekommen dadurch, dass sie im Lockdown und dem kommenden Monat nicht mehr möglich waren bzw. sind eine ganz andere tiefere Wichtigkeit für mich. Es ist fast so, als würde man die Zeit, die man dann schwitzend im Fitnessstudio, in der Sporthalle zwischen Basketbällen und Gleichgesinnten, auf einer Veranstaltung am Abend oder lachend mit Freunden im Restaurant oder einer Bar verbringt viel mehr wertschätzen. Viel mehr leben, viel mehr spüren als zuvor. Es sind diese Dankbarkeit, diese Achtsamkeit für die Dinge, die dann wieder möglich sind, die eine tiefere Bedeutung schaffen. Und das ist wichtig. Es ist der zeitweise Verzicht, der uns lehrt, wie privilegiert wir eigentlich sind und wie glücklich wir uns schätzen können, dass uns all diese Türen offenstehen, die für uns so normal sind. Es ist schmerzhaft, wenn einem all das, was sonst erreichbar und selbstverständlich war, all das, was einem Kraft und Ausgleich, Spaß und Leidenschaft, Routine und Struktur gegeben hat, genommen wird, doch es liegt auch ein noch größerer Wert in dieser Erfahrung, zu lernen, das wertzuschätzen, was man in diesem Moment, an diesem Tag machen kann und auf das man vielleicht schon bald wieder verzichten muss.

Es ist fast so, als hätte die Sonne der letzten Monate all die Distanz und vielleicht auch Vorsicht verdrängt, als wären da in mir nur noch der Sommer und die Lust auf Erlebnisse und schöne Momente gewesen. Als hätte ich rebellieren wollen gegen die Zeit, in der all der jugendliche Tatendrang erstickt werden musste, als hätte ich wieder das Leben und Berlin, mit all seinen Möglichkeiten, all seinen faszinierenden Menschen und Orten atmen wollen. Alles fühlte sich wieder freier an. Normaler, trotz der Maske, trotz der Regeln, weil all das schon zur Normalität geworden war. Doch jetzt? Jetzt scheint die größer werdende Ungewissheit des Verlaufs wieder Vorsicht und Sorgen hervorzurufen. Jetzt spürt man genau das wieder zwischen den Menschen. Jetzt sag ich nicht mehr sofort zu, wenn mich jemand dazu einlädt mit ein paar Freunden einen Abend zu verbringen. Jetzt überleg ich es mir zwei Mal, ob ich das riskieren will. Ob ich das verantworten will. Weil doch jeder von uns ein Stück dieser Verantwortung trägt.

Wenn ich in der Bahn sitze, beobachte ich immer noch Menschen, die ganz automatisch zu dem leuchtenden Türöffner greifen, obwohl die Türen seit Corona automatisch öffnen. Manche Gewohnheiten, manche Routinen sind bereits so viel länger in uns, als Corona es ist und manches lässt sich nur schwer ablegen. Es sind winzige Momente wie diese, in denen ich merke, dass die Zeit ohne Maske noch gar nicht so lange her ist. Die Zeit, in der wir alle jetzt schon unser nächstes Reiseziel im Kopf gehabt hätten. Pläne fürs nächste Jahr. Vielleicht wird durch Corona einfach alles etwas flexibler, etwas spontaner, etwas lebendiger, weil es keine Pläne mehr gibt, keine Vorhaben fürs nächste Jahr, an die man sich klammern, auf die man sich freuen kann.
Niemand weiß, was noch kommt, niemand weiß, wie lang uns solche Einschränkungen noch begleiten werden. Niemand weiß, ob es jemals wieder Bahnfahren ohne Maske geben oder wann die Uni wieder in Hörsälen stattfinden wird. Niemand weiß, wann die Menschen wieder ohne Bedenken einen Flug in ein anderes Land buchen werden.
Doch was ich ganz genau weiß, ist, dass es sich lohnt aus dem was wir haben, das Beste zu machen.
Ich hatte mich Anfang diesen Jahres sehr auf 2020 gefreut. Sagte mir, dass das mein Jahr wird, weil die Zeit davor nicht leicht für mich gewesen ist. Ich hatte Vorhaben und Pläne, gebuchte Events und Wochenendtrips, ich wollte Sachen erleben und Erfahrungen sammeln, so wie wir alle. Es kam ganz anders als ich es mir erhofft hatte und trotzdem erkenne ich immer mehr, dass mich all diese Zeit, all diese Ungewissheit und diese abgesagten Pläne gelehrt haben, so viel besser mit Enttäuschungen umzugehen und flexibler zu sein. Mich nicht an die Zukunft und noch Kommendes zu klammern, in der Hoffnung, dass es besser wird, sondern im Hier und Jetzt etwas zu ändern, Dinge zu suchen, die mich glücklich machen, die mir Ruhe schenken. Corona hat mich durch all die Ungewissheit, Unsicherheit und die Enttäuschungen gelehrt, noch dankbarer für die Dinge zu sein, die ich habe, die ich machen kann und die mich erfüllen. Hat mir Motivation und Ruhe geschenkt. Hat mir den Wert von menschlicher echter emotionaler Nähe bewiesen und gelehrt, dass Ruhe und Innehalten so viel kraftvoller sein können als Leistung und Tempo.

Ich fahre durch schwarze Dunkelheit. Da sind nur die grellen Tupfer der Lichter der Stadt, die sie durchbrechen. Mein Spiegelbild leistet mir Gesellschaft, mein eigenes Gesicht blickt mich an. Maskiert. Um mich rum sind nur mundlose Gestalten, es fühlt sich noch anonymer an öffentlich unterwegs zu sein. Distanzierter, so als würden unsichtbare Barrieren zwischen den Menschen stehen, die nun nicht mal mehr ein Lächeln überbrücken könnte. Ich spüre schon länger, wie normal es geworden ist, im Jetzt zu leben. Nicht mehr im Später, nicht mehr im nächsten Jahr, sondern im Jetzt. Ungewissheit scheint auch dafür zu sorgen, dass die Menschen ihren Fokus mehr auf sich selbst und diesen Moment, in dem sie sich befinden, legen. Mehr darauf, was jetzt möglich ist, was jetzt getan werden kann und nicht auf das, was da noch kommen könnte.
Also lasst uns alle zusammen das Beste daraus machen, gemeinsam Verantwortung für den jeweils anderen tragen, verzichten, um Dankbarkeit zu empfinden und uns unter der Maske gegenseitig ein Lächeln schenken. Denn es sind die Augen, die dann mitlächeln.

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