Es ist Freitag. Ich setze mich ins Auto und starte den Motor. Langsam rolle ich aus der Einfahrt und auf die Straße. Ich weiß nicht so richtig, wo ich hinwill. Einfach fahren, erstmal. Handy und Auto verbinden, Spotify öffnen, Musik an. Los geht’s.
Nachdem ich die Vororte hinter mir gelassen habe, bin ich mit den Feldern und Bäumen links und rechts neben mir und vereinzelten Autos hinter mir allein. Die Baumkronen schimmern in herbstlichen Farben, rauschen in orange, gelb und braun an mir vorbei. Ich bedauere jetzt schon den Augenblick, in dem sie gänzlich mit dem Boden verschmelzen werden und nur noch kahle nackte Äste übrigbleiben. Der Winter legt jedes Jahr das Rohe frei, das Innere. Sodass man hindurchschauen kann, zwischen den Ästen hindurch, den Büschen und hinein in die hell erleuchteten Augen der Häuser, die nachts an einem vorbeiziehen.
Der Winter legt all das Rohe und Innere frei, man kann durch die Fensterscheiben, in die Leben von fremden Menschen schauen, ist von all den warmen Emotionen umgeben, wenn die Weihnachtsmärkte wieder öffnen und sich Liebe und Familiengefühl in jeder Ecke anstauen. Der Winter bringt uns näher zusammen, so als würden wir uns wegen der Kälte aneinander kuscheln, Wärme sammeln, um bis zum Sommer durchzuhalten. Es ist leichter, Emotionen zu zeigen, sich der Familie zu öffnen, durch fremde Fenster in fremde Leben zu schauen. Sich zu fragen, was für eine Art von Mensch dort drinnen wohl lebt. Welches Leben er lebt, welcher Arbeit er jeden Tag nachgeht, welche politische Einstellung er hat, ob er glücklich oder unglücklich ist?
Die Bäume rauschen an mir vorbei, ihre schwarzen Stämme, die sich senkrecht in den grauen Himmel schrauben, stehen im starken Kontrast zu den gelben Blättern. Musik dröhnt mir entgegen: Trettmann, Apache, AnnenMayKantereit. Ein Liebeslied kommt als nächstes, Alles von Jelina, ich drücke es weg. Keine Zeit für solche Gedanken. Allein Autofahren ist schön, man kann singen und die Musik so laut machen wie man will. Ich liebe das Schalten und zu spüren, wie man an Geschwindigkeit aufnimmt, wie alles reibungslos funktioniert, wie ich es steuere. Und mit jedem weiteren km/h, den der Zeiger im Tacho erklimmt, fühle ich mich freier, unabhängiger.
Ich kann überall hinfahren. Heute.
Einfach das Wissen zu haben, dass man es kann, ist schon befreiend. Plötzlich weiß ich, wo ich hinwill. Ich biege ab, steuere durch Kreisverkehr und Kreisverkehr, beschleunige, blinke, schalte. Alles woran ich denke, ist die Straße vor mir, während ich mich von der Musik und meiner Intuition leiten lasse. Ich weiß nicht mehr genau, wie ich dorthin komme, war schon lange nicht mehr da, aber ich fahre einfach. Und irgendwie, irgendwann komme ich an, ich steige aus. Sofort schlägt mir die Waldluft entgegen, strömt in meine Lunge, füllt mich aus, heilt mich.
Wälder sind Balsam für meine Seele, es ist wie Ankommen, jedes Mal. Es riecht nach Pilzen und Feuchtigkeit, nach Frische wie am Meer und Blättern, die schon lange den Boden bedecken. Moos federt meine Schritte ab und ich folge einem Weg in den Wald hinein. Links: hohe gerade Nadelbäume, zwischen ihnen Sträucher und hohe Gräser. Rechts: Laubbäume, verstreut und unterschiedlich groß, wirken einzigartig und natürlich, nicht gepflanzt, sondern einfach gewachsen. Und überall Moos, wie eine Spur zieht es sich über jeden Stamm, jeden Stein und aufgestapeltes Holz. Umso weiter ich gehe, umso ruhiger werde ich. Das ist es, was Wälder machen. Sie bringen Ruhe und Gelassenheit, erden mich.
Es ist schon komisch, so allein im Wald zu sein. Einer, der nicht am Rand eines Ortes liegt, sondern wo du dich wirklich verirren und nicht mehr rausfinden kannst. Mit jedem Schritt nimmt der Empfangsbalken auf meinem Handybildschirm weiter ab, jetzt bin ich wirklich allein. Nicht mehr erreichbar. Irgendwie erschreckend und befreiend zugleich. Es weiß ja jemand wo ich bin, also weiter geht’s. Ich stecke das Handy weit weg und nehme stattdessen meine Kamera. Nur ich, der Wald und die Kamera, ein schönes Gefühl. So kann man alles in sich aufsaugen, jedes Geräusch wirklich wahrnehmen, hier sein, in diesem Moment. Kurze Zeit später tauchen vor mir die ersten Betonpfeiler auf, vergessene Zeichen vergangener Zeiten.
Früher war das hier Militärgelände. Heute, wo man durch die Pfeiler treten kann, war früher Stacheldrahtzaun. Schützengräben, bedeckt mit Betonplatten befinden sich neben mir, früher standen Menschen da drin, Soldaten. Mir fällt ein, dass morgen der 9. November ist. Mauerfall.
Das hier ist ein altes DDR Gelände, ich höre noch die Stimme meines Dads im Ohr, wie er meinte, dass hier früher Raketen stationiert waren, rund um die Uhr bewacht wurden. Sie wären sofort einsatzbereit gewesen, hätten irgendeine Stadt in Westdeutschland oder sonst wo getroffen und Leben zerstört. Heute ist davon nur noch der Hauch einer Spur erkennbar. Ich laufe über vier quadratisch angeordnete bewachsene Hügel, in deren Mitte früher eine Rakete gestanden haben muss, davon gibt es hier viele, zählen kann ich sie nicht. Das Ende des Geländes geht im Wald unter, die Betonpfeiler verschwinden irgendwann aus meinem Sichtfeld. Wenige Meter weiter gelange ich zu einer Ruine.
Ein halb zerfallenes Haus, einen Ort, den sich die Natur Stück für Stück zurückerobert hat. Teilweise stehen nur noch die Grundmauern der Räume, die losen Ziegel sind mit Moos überzogen, wie alles hier. Bäume wachsen an den unmöglichsten Stellen, auf Mauern, in den ehemaligen Räumen, durch alte Fenster hindurch. Es ist komplett still, nur ein Specht klopft etwas entfernt gegen einen Baum. Im ersten Moment denke ich, es sind Schritte, aber dann wird mir klar, dass das nur mein Kopf ist, der sich was zusammenbastelt. Ich sehe mich immer wieder um, schaue, dass niemand hier ist. Natürlich finden sich Spuren von Menschen, eine alte Feuerstelle, leere Chipstüten und alte Bierdosen, Packungen von Grillfleisch. Obdachlose treiben sich hier ganz sicher nicht rum, dann müssen es irgendwelche Jugendlichen gewesen sein, die hier auf dem Land wohnen. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass jemand in diesen verlassenen Räumen auf mich wartet, mich anschaut, wenn ich um die nächste dunkle Ecke gehe. Ich laufe trotzdem weiter, getrieben von Neugier und das flaue Gefühl im Magen ignorierend. Ich klettere über zerfallene Mauern, Glasscherben knirschen unter meinen Schuhsohlen, Äste knacken und Staub wird aufgewirbelt.
Alles ist rostig, Draht, der aus der Decke ragt, Nägel, die aus vermodertem Holz hervorlugen, Scharniere an den im Leeren baumelnden Fenstern. Eine verlorene Flasche liegt in einem Raum auf dem Boden. Vergessen und zurückgelassen. Dieser Ort ist so leer, so ohne Leben und trotzdem spüre ich die Vergangenheit, frage mich bei der abgeblätterten Wandfarbe und der herunterhängenden Blümchentapete wie die Soldaten hier gelebt haben. Welcher Raum zum Schlafen, welcher zum Essen, welcher für die Waffen gedacht war. Es kommt mir so surreal vor, dass vor nicht allzu langer Zeit Soldaten hier rumgelaufen sind, die Waffen im Anschlag. Jetzt wirkt alles friedlich, so natürlich irgendwie. Als hätten all die Pflanzen und Gräser, die sich zwischen dem Gerümpel und Gesteinsbrocken eingenistet haben, den menschlichen Hinterlassenschaften den Krieg angesagt. Als würden sie mit aller Gewalt ihr Territorium zurückerobern.
Mein Atem, meine knirschenden Schritte und das Klicken meiner Kamera sind die einzigen Geräusche in dieser Ruine. Mein Herz schlägt schneller, als ich eine dunkle Treppe nach unten tapse, die Taschenlampe an meinem Handy einschalte und um die Ecke gehe. Nichts. Nur dunkle Räume mit alten Schränken, zerbrochenen Dingen, Staub. Nichts Aufregendes. Ich merke, dass mein Akku nicht mehr lange hält. Wieder draußen krame ich die Power Bank raus, die ich mitgenommen habe, auch leer.
Na toll, super vorbereitet, Charly.
Kennst du dieses Gefühl, dass man am Meer oder auf der Spitze eines Berges hat? Dieses Gefühl des Kleinseins, wenn einem bewusst wird, wie unbedeutend die eigene Existenz ist? Genau das spüre ich hier. All diese Steine, die damals aufeinandergesetzt wurden, um ein Haus zu bauen, sind nun zusammengebrochen, von Moos bedeckt. Bäume sind die einzigen Bewohner dieser Räume, Leben gibt es hier nur in Form von Pflanzen und dem ein oder anderem Tier. Es scheint, als würde es keine Rolle spielen, dass wir je auf dieser Erde waren, weil die Natur alles überdauert, sogar unsere Zerstörungsgewalt.
Ich bin froh, dass es so ist. Dass hier keine Soldaten mehr umherlaufen, auf einen Befehl warten. Ich bin froh, dass ich mich in ein Auto setzen und überallhin fahren kann, wo ich hinwill. Dass ich in den Westen oder nach Polen, nach Italien oder Dänemark fahren könnte, wenn ich wollte. Einfach diese Möglichkeit zu haben, dieses Wissen im Hinterkopf ist für uns so selbstverständlich und dabei ist es das nicht.
Unsere Eltern, meine Eltern, kannten dieses Gefühl noch nicht in meinem jetzigen Alter. Früher gab es Mauern und Zäune, Stacheldraht und Soldaten in Uniformen, mit schwarzen schweren Waffen in den Armen und eingeschränkte Medien und Lebensmittel. Früher hat sich meine Mom über eine Mandarine zu Nikolaus ein Loch in den Bauch gefreut, heute bekommen die Kinder sicherlich iPhones geschenkt.
Mir all das vorzustellen ist surreal, ich kann es manchmal gar nicht glauben, mir eigentlich gar nicht vorstellen, weil ich es nicht kenne. Ich bin so nicht aufgewachsen, für mich gab es schon immer alle Möglichkeiten, alles im Überfluss und zu jeder Zeit verfügbar. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Regierung bestimmt hat, ob und wohin man verreisen darf und dass Menschen erschossen wurden bei dem Versuch, zu ihren Verwandten in Westdeutschland zu gelangen.
Heutzutage denken wir über Selbstfindung, unseren Lebenssinn, Klimawandel, Vegetarismus und das neue Bild bei Instagram von der einen Bekannten, die man über tausend Ecken irgendwie entfernt kennt, nach. Wenn wir eine Mandarine essen wollen, kaufen wir sie uns, sogar im Sommer. Wenn wir nach Österreich, nach Amsterdam oder nach Thailand wollen, setzen wir uns in den Zug oder ein Flugzeug, mieten uns ein Auto oder nehmen das Eigene und fahren los.
Wir posten unsere schönsten Erinnerungen, tiefgründige Sprüche und die peinlichsten Partybilder in sozialen Netzwerken und können jede erdenkliche Information im Internet finden, wenn wir sie suchen.
Im Fernsehen läuft nur noch Schwachsinn, dafür haben wir Amazon Prime und Netflix, Millionen von Möglichkeiten unseren Filmeabend zu verbringen. Es gibt nicht mehr nur einen Nachrichtensender, sondern unzählige, dazu noch YouTube und die Tagesschau im Internet, jederzeit verfügbar.
Und das ist gut. Das ist richtig so. Es ist der Wandel der Zeit.
Und trotzdem genieße ich die Ruhe in diesem Wald, das Alleinsein, die Unerreichbarkeit. Die Einfachheit. Dieses Gefühl des Vergangenen, wenn ich durch die zerfallenen Mauern gehe, mir dabei bewusst ist, dass hier keine Soldaten, keine Raketen mehr rumstehen. Höchstens ein Reh oder ein Förster meinen Weg kreuzen kann. Wir denken über so ganz andere Sachen nach als die Menschen vor uns, in der Zeit, als sich zwischen den Pfeilern noch Stacheldraht spannte. Und das ist okay so, das ist unsere Zeit.
Aber ich finde es wichtig, manchmal kurz innezuhalten und daran zu denken, dass wir privilegiert sind. Dass wir dankbar sein sollten für jeden Tag, jede Chance, die wir haben und die wir nutzen sollten, weil es andere Menschen nicht können. Nicht diese Möglichkeiten haben. Nicht studieren, nicht verreisen, nicht jederzeit überallhin können. Wir denken über so viel andere Sachen nach, weil wir es können, weil es unsere Zeit erlaubt. Weil wir uns um andere Dinge keine Sorgen machen müssen.
Und wenn ich über dieses Gelände laufe, die leeren Raketenstellplätze und Schützengräben betrachte, dann bin ich froh, in dieser Zeit leben zu können. Eine Zeit, in der das bloße Leben so einfach ist. Zumindest für viele von uns.
Ein Anruf reißt mich aus meinen Gedanken.
Unerreichbarkeit, wie war das nochmal?
Es ist jetzt zwar nicht mehr der 9. November, aber der Text ist trotz der Überschrift zeitlos. „Der Winter legt das Rohe und Innere frei“… eine sehr schöne Beschreibung. Ich denke, der Winter lässt uns etwas erkennen, etwas, das sonst nur versteckt hinter den Blättern und hinter den Mitmenschen liegt. Wenn die Blätter fallen und jeder sich mehr auf sich und seine Mitmenschen besinnt, dann kommt dieses Rohe und Innere zum Vorschein. Vielleicht ist es sogar die Essenz eines jeden Einzelnen. Für mich gilt das auch für die Nacht. In der Nacht, wenn der Mond hell scheint und der Wind weht und ich in die Natur, auf die Bäume, Sträucher und Wiesen schaue, dann sehe ich keine Farben, ich sehe nur die Formen und die Bewegungen durch den Wind. Ein Gefühl der Klarheit und der inneren Ruhe überkommt mich in solchen Momenten und ich habe das Gefühl, auch wenn es vielleicht nur ein trügerisches Gefühl ist, etwas ganz wichtiges und fundamentales zu verstehen. Vielleicht ist es das gleiche Gefühl, was du auf der Bergspitze oder am Meer beschreibst. („Dieses Gefühl des Kleinseins, wenn einem bewusst wird, wie unbedeutend die eigene Existenz ist?“)
Diese Kurzgeschichte ist am Ende auch eine Ode an die Freiheit. Um zu lernen, was Freiheit bedeutet, muss man sich auch das Gegenteil vergewissern, denn wenn es keine Unfreiheit geben würde oder gegeben hätte, dann wäre das Wort Freiheit aussagelos und wenn du diese Freiheit hast, dann nutze sie. Diese Geschichte erzählt davon. Du setzt dich in dein Auto und du wählst aktiv deine Freiheit zu nutzen. Am Ende, hast du Entdekungen gemacht, neue Denkanstöße und Erkenntnisse erlangt und uns eine wunderschöne Kurzgeschichte geschenkt.
Hey Bennet! Danke für deinen Kommentar. Ja, ich verstehe vollkommen, was du damit meinst, dass dieser Gedanke für dich auch für die Nacht gilt. Gerade nachts scheint alles um uns herum so ganz anders zu sein. Ich finde zum Beispiel auch, dass man sich nachts in der Stadt, wenn alles verhältnismäßig ruhig und leer ist, extrem frei und beschwingt fühlt. Irgendwie so anders als am Tag.
LG Charly