Muschel

Ich stehe auf dem Bahnsteig in meiner Jeansjacke und meinem Lieblingshoodie. Mein Blick ist auf den Boden gerichtet, der von weißen Kaugummiflecken übersät ist, die bereits eins geworden sind mit dem Beton. Ich stecke die Hände in die Jackentaschen und spüre etwas kleines Hartes zwischen den Fingern. Als ich die linke Hand wieder hervorziehe, liegt eine kleine weiße Muschel auf meiner Handfläche. So eine, wie die, die ich von der Ostsee mitgebracht habe. So eine wie die, die dort oben zu Tausenden am Strand verteilt liegen und von dem täglichen glutroten Licht des Sonnenuntergangs angestrahlt werden, während sie den bleckenden Wellen des Meeres entkommen. Gestrandet im Sand. Angekommen, bevor sie wieder ins Meer gerissen werden. Das weiße Gold des Meeres.
Ich fahre mit der Daumenkuppe über die Struktur der Muschel, betrachte sie stumm wie sie da in meiner Hand liegt und versuche zu verstehen, was ich gerade fühle. Ich wusste gar nicht mehr, dass ich noch eine in meiner Jacke hatte, dachte, ich hätte die drei Muscheln, die ich oben gesammelt habe, alle zusammen aus den Hosen- und Jackentaschen gekramt und sicher verwahrt.
Eine war für dich, sie liegt jetzt noch bei mir.
Eine andere für sie, aber auch diese habe ich ihr nie gegeben.
Die Dritte war für mich gedacht, als Andenken, als Verbindung zu diesem Ort, den ich so liebe. Zu dem Gefühl, das er mir gibt. Zu dem Loslösen und Abschalten und Runterkommen. Zu der Ruhe und Unerreichbarkeit, zu dieser anderen Welt, in der man nur barfuß und mit verstrubbelten Haaren umherläuft, mit einem Lächeln und leichtem Sonnenbrand im Gesicht. Zu dieser Welt, in der nichts zählt, außer der Moment und die nächsten Stunden und die Frage, was man macht. Diese Welt, in der ich wieder Kind bin, so echt und pur und frei, mit Lagerfeuer, dessen Knistern und Flackern mich schon immer fasziniert haben, mit ganz einfachen Dingen, die mich so glücklich machen, wie der morgendliche Streifen des Sonnenaufgangs, wenn man aus dem Zelt kriecht und zur Toilette tapst oder der Geruch von Kiefernnadeln und warmen Sand. In der nichts zählt, außer das Gefühl nach einem langen Tag voller Bewegung am Strand und Sonne auf die Luftmatratze zu sinken, die Kühle der Abendluft noch auf der Haut zu spüren und trotzdem rote heiße Wangen vom Feuer zu haben.

Und ich stehe hier auf diesem Bahnsteig und spüre Sehnsucht nach diesem Ort in mir. So tief und echt. Nach Wegfahren und Abstand von all dem hier, obwohl es ja schön ist gerade bei mir, alles, eigentlich. Aber trotzdem: losfahren und Dinge sehen, Erfahrungen machen, abschalten, in den Tag leben. Irgendwie mal wieder fliehen und obwohl es nichts gibt, wovor ich fliehen wollen würde, wär ich manchmal trotzdem gern woanders. Einfach was anderes sehen, neuer Input, Abwechslung, Abenteuer auf die ein oder andere Art und Weise. Erinnerungen schaffen mit Menschen, die man liebt, mit denen man gerne zusammen ist, die einem ein gutes positives Gefühl geben. Mit denen man die Zeit vergisst. Ist es nicht das, was zählt? Menschen, die deinen Energietank auffüllen, wenn du mit ihnen zusammen bist und ihn nicht leeren oder stagnieren lassen. Ist es nicht das, was glücklich macht?
Und dann frage ich mich immer wieder, was eigentlich Liebe ist? Was sie für mich ist? Denn wer sagt, was sie ist und ist sie denn immer gleich? Wieso muss man etwas so Schönes, so Zerbrechliches, so Bedingungsloses definieren? Früher war für mich all das so klar und einfach. Ich hatte Vorstellungen im Kopf, die die Gesellschaft und mein Umfeld mir gegeben hatten, hatte selbst noch nicht erlebt, was es heißt so viel zu fühlen. Beziehungen haben doch immer ein ähnliches Prinzip, richtig? Es gibt Dinge, die man als Freundin oder Freund in einer Beziehung tut und andere nicht, richtig? Aber wer sagt sowas?
Sind diese unausgesprochenen Verhaltensweisen nicht nur Rückbleibsel aus längst überholten Traditionen und Normen aus früheren Zeiten? Ist es nicht einfach nur wichtig, dass man selbst glücklich ist, egal wie die Beziehung, die man zu einem Menschen, den man liebt, hegt aussieht?
Ich habe oft das Gefühl, dass es dann eher die Angst vor den Meinungen der anderen, meines sozialen Umfeldes, ist, die mich zögern oder zweifeln lassen. Die Bedenken von anderen, die mich ins Wanken bringen, obwohl mein Bauchgefühl weiß, was für mich richtig ist. Was mich glücklich macht. Wir leben in einer so komplexen und immer komplexer werdenden Welt, dass all die Möglichkeiten und Entscheidungen, all die Freiheit, die wir haben, auch Unsicherheiten und Überforderung mit sich bringen. Selektion von wichtig und unwichtig und Prioritäten zu setzen, wird immer bedeutender und vielleicht ist es auch diese Sintflut an Entscheidungen, Daten und Informationen, die uns, die mich, bewegen mich nach Ruhe und Flucht zu sehnen. Nach Entkommen und weg- Sein, wenigstens für eine kurze Zeit. Erden, um dann wieder startklar zu sein.
Ich weiß nicht, was richtig oder falsch ist. Weiß, dass nichts schwarz oder weiß ist, dass die Farbschattierungen immer spezifischer und kleinteiliger werden und jede Entscheidung und deren Konsequenzen meine eigenen sind. Ich kann nicht sagen, was das Richtige für mich in ein paar Monaten oder Jahren ist. Kann nicht wissen, was in dieser Zeit passiert oder eben nicht passiert, was sich ändert, wie mein Leben aussehen wird. Ich kann nur für den jetzigen Moment entscheiden, dafür, was ich will und was mich glücklich macht. Und ich weiß, was ich will. Ich wusste schon immer recht genau was ich will und habe schon als kleines Mädchen gekämpft, bis ich es hatte. Leider merkt man, wenn man erwachsen wird, oder zumindest als erwachsen gilt, dass manche Dinge nicht in der eigenen Macht liegen. Das Leben spielt eben oft anders und manchmal gibt es keinen Schuldigen, niemanden, auf den man wütend sein kann, wenn etwas nicht so läuft wie man möchte, manchmal muss man die Dinge so sein lassen wie sie sind, sie so akzeptieren für den jetzigen Moment und das Beste draus machen. Es genießen wie es ist, weil manchmal eben einfach das Leben dazwischenkommt.

Wir haben das Glück selbst entscheiden zu können wie und mit was wir glücklich sind und was wir wollen in unserem eigenen Leben. Wir haben das Glück so viele Optionen und Wege vor uns zu haben, können denken was wir wollen, sagen was wir wollen, machen was wir wollen. Wir können wohnen wie wir wollen, lieben wie wir wollen und wen wir wollen.
Wir können leben wie wir wollen.
Und dem ein oder andern wird das nicht passen, er wird seinen Senf dazugeben, obwohl wir ihn nicht hören wollen. Manch einer wird Bedenken und Zweifel äußern, auch wenn diese nur aus Sorge und Liebe entstehen und meistens ist es genau das, das mich mit am meisten verunsichert in dem, von dem ich denke, dass es das Richtige für mich ist. Zweifel von einem Menschen, den ich liebe und achte, dem ich vertraue, dessen Meinung ich schätze. Aber auch diese Menschen, sind nicht ich, leben nicht mein Leben, fühlen nicht was ich fühle. Und immer mehr begreife ich, dass ich frei bin von all den Meinungen der anderen.
Sie können sagen was sie wollen, entscheiden muss ich.
Und ich glaube langsam, dass das bedeutet, erwachsen zu sein.

Ich betrachte die Rillen der kleinen zarten Muschel noch ein letztes Mal, drehe sie zwischen den Fingerspitzen und glaube fast das Salz des Meeres auf meinen Lippen zu schmecken. Dann stecke ich die Muschel wieder in die Tasche und sehe der einfahrenden S-Bahn entgegen.
Wie schön ist es doch, gleichzeitig Kind und erwachsen zu sein.

(2) Kommentare

  1. Charly sagt:

    Was glaubt ihr, heißt erwachsen zu sein?

  2. Kai sagt:

    Es ist schwierig zu fassen, was es heißt erwachsen zu werden. Ich glaube es bedeutet in aller erster Linie, dass ich mir selber als Person, besonders als meinungsbildende Person, eine bestimmte Unabhängigkeit von meinen Eltern ermöglichen muss. Das heißt nicht, dass ich alles anders sehen muss wie meine Eltern, aber ich muss es hinterfragen können, ob es wirklich das ist, was ich denke. Erwachsen werden bedeudet damit auch, sich zu seiner eigenen Verantwortung zu bekennen. Meine Entscheidungen sind durch mich gefällt worden und ich habe sie vor mir zu verantworten und kann mich nicht mehr hinter anderen Personen verstecken.

    Hallo Charly,

    Dein Text gefällt mir persönlich sehr gut, denn hier reflektierst du wirklich über dich und er spielt meiner Meinung nach in einer anderen Liga, als die 3 Texte davor.

    Bei einem Punkt muss ich dir aber widersprechen. Wir können zwar über uns selbst entscheiden, aber wir können nicht entscheiden „wie und mit was wir glücklich sind“. Du kannst nicht einfach entscheiden: „Dieses Nutella-Glas macht mich glücklich, wenn ich jeden Tag einen Löffel davon esse“. Glück (wie auch immer man es definieren mag) existiert unavhängig von der Entscheidung. Erst im Nachhinein kannst du bewerten, ob Gegenstände oder Umstände dich glücklich gemacht haben.

    Ich freue mich jedes mal auf deine Texte. Aber mich würde es freuen, wenn du diese ganzen Unsicherheiten über Bord wirfst. Lass das anonyme „man“ weg. Deine Texte sprechen für dich und das macht sie stark.

    LG Kai

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