Ihr Gesicht ist in das schummrige orange Licht der Lichterkette gehüllt. Wir sitzen uns in der WG-Küche gegenüber, zwischen uns viele bunte Schälchen mit vielen bunten Gemüsestücken darin. Auf der Arbeitsfläche stapeln sich die Küchenutensilien und auf dem Kühlschrank die Weinflaschen. Viel zu lang ist es her, dass ich in meiner WG-Küche Alkohol getrunken habe. Ihre hellen Haare umrahmen ihr Gesicht, das dieses Leuchten besitzt, das ich so sehr an ihr mag. Diese Ausstrahlung, die einen einfach in seinen Bann zieht. Diese Ruhe, diese Sensibilität und gleichzeitige Souveränität, die von ihr ausgeht. Mit ihr habe ich immer Gespräche, die mich fast sprachlos und wortlos zurücklassen, weil alles gesagt wurde, das in mir war und wir trotzdem die ganze Nacht zusammensitzen und Gedanken austauschen könnten, wenn die Zeit dazu da wäre.
Wir sprechen über den Tod, über unsere verstorbenen Opas, ihrer im Spätsommer und meiner vor wenigen Wochen. Wir sprechen über die Spuren des Alters, die eine Person ohne Persönlichkeit und scheinbares Innenleben zurücklassen, bis derjenige wie ein Gefangener im eigenen Körper erscheint. Seiner eigenen Handlungen nicht mehr mächtig, nicht mehr fähig, sich zu verständigen. Ich denke dadurch mehr über den eigenen Tod nach, über das Ende unserer Lebenslinien, das unseren Leben seine Schönheit schenkt. Die Vergänglichkeit, die den Momenten ihre Einzigartigkeit und Flüchtigkeit verleiht und vor der wir uns gleichzeitig am meisten fürchten.
Angst, nicht genug Zeit zu haben. Angst, etwas zu bereuen, eine Chance nicht zu nutzen, nichts zu erzählen zu haben, wenn einem kaum mehr als Erinnerungen bleiben, wie es bei meinem Opa der Fall war.
Was werde ich später meinen Liebsten aus meinem Leben erzählen? Wer werde ich sein nach all den Jahren, die hinter mir liegen und welche Entscheidungen aus meinem Leben werde ich bereuen, welche feiern und welche werden mich überraschen?
Ich frage mich ab und zu, ob das Leben, das ich lebe, wirklich das ist, was ich leben möchte. Ich frage mich oft, ob wir manchmal zu sehr die Erwartungen leben, von denen wir denken irgendwer, sei es Personen oder die Gesellschaft, würde sie an uns stellen. Ich frage mich, was ich machen würde, wenn ich keine Angst hätte.
Ich erzähle ihr von den Dingen, die mich zurzeit beschäftigen, von einer Angst, die mich neuerdings begleitet, von neuen Erkenntnissen über mich selbst, die ich gemacht habe und die mich voranbringen und dennoch nachdenken lassen.
Ich frage sie: „Was beschäftigt dich zurzeit?“.
Sie wirkt ruhig, diese ganze Situation ist unglaublich ruhig. Still könnte man sagen. Eine Stille, die ich in dem Lärm der Großstadt oft vermisse. Sie erzählt von dem Konsum, von dieser Blase, in der wir leben, die sie momentan zu erdrücken scheint. Sie spricht über klimatische und pandemische Entwicklungen, sie beschreibt, wie ihr all diese Themen zurzeit wie ein schwerer Mantel auf den Schultern liegen. Es fühlt sich an, als würde es immer und immer wieder um dasselbe gehen, als würden wir uns ständig im Kreis drehen und sich trotzdem nichts verändern. Als würde die Menschheit immer vorwärtsgehen, immer dem Fortschritt hinterherjagen, aber stetig in die falsche Richtung.
Eine Richtung, die uns weiter und weiter in eine Welt manövriert, in der wir nicht mehr leben wollen und können. Mit ihren achtsamen und sorgfältig überlegten Worten trifft sie einen Nerv bei mir. Sie fängt ein Gefühl ein, das ich schon sehr lange in mir spüre und nie richtig greifen, nie richtig beschreiben kann. Worte scheinen mir zuzufliegen wie anderen die Lösungen von Gleichungen oder die richtige Melodie eines Liedes, doch bei diesem Gefühl der Ohnmacht, der Überforderung -ja- der Zerrissenheit im Angesicht dieser ganzen globalen Krisen fehlt mir oft meine Sprache.
„Diese Blase, die du beschreibst… Dieser Konsum, dieses Kaufen und Wollen und Haben, ich weiß genau, was du damit meinst. Mir geht es ähnlich. Es fühlt sich oft alles so bequem und unecht an. Die Anstrengung fehlt. Es gibt Unternehmen, bei denen du dir sogar sonntags Lebensmittel liefern lassen kannst, so als könnten die Leute nicht einmal einen Tag lang verzichten, einkaufen zu gehen und vorauszuplanen, es gibt überall Rolltreppen, damit Menschen sich so wenig wie möglich bewegen müssen und alles was du brauchst, kannst du dir vor die Haustür liefern lassen. Alles ist so komplex -irgendwie- und kompliziert. Es geht nicht mehr um die einfachen Dinge. Wir sind tagtäglich von unglaublich vielen Menschen umgeben, in der Bahn, in der Uni, im Gym, im Club, im Supermarkt: und trotzdem rauscht alles nur an uns vorbei, jeder lebt sein Leben, das nur lose mit den Personen verknüpft ist, die wirklich in seiner Nähe sind. Wir haben es so bequem und werden durch immer neuere Technologien dazu verleitet, in unserer Comfort Zone zu bleiben und das Leben zu verpassen. Ich sehne mich nach etwas Echtem, nach etwas, das ich anfassen und berühren kann, etwas, das wirklich was in mir auslöst, mich lebendig fühlen lässt und nicht nur kurzfristig ein Bedürfnis befriedigt, wie das Kaufen von neuen Klamotten.“ „Ja, das stimmt.“, erwidert sie. „Wir haben es so unglaublich gut, und wir bemerken es oft nicht mal“ Ich stimme ihr voll zu. Klar, wir kennen es nicht anders. Wir schweben auf einem Niveau des Lebens, von dem es sehr schmerzhaft erscheint, hinabzufallen. Und gerade jetzt erleben wir genau das, da uns Einschränkungen zwingen, Möglichkeiten, die wir bisher immer hatten, aufzugeben oder die schlicht, unser Leben unbequemer machen, ihm ein Stück der Unbeschwertheit nehmen, nach der wir uns zurzeit alle sehnen. „Weißt du, wenn ich in dem Garten meiner Eltern die Wurzel eines Baumes ausgrabe -nein kein Quatsch jetzt, klingt komisch, aber ist wirklich so- dann fühle ich mich lebendig. Ich bin umgeben von zwei Menschen, die ich auf dieser Erde mit am meisten liebe, ich stecke bis zu den Ellenbogen in Sand und Erde, grabe, säge, reiße an den Gliedmaßen des Baumstumpfes, mit denen er sich im Leben festkrallt und spüre die warme Sonne auf meinem Rücken. Und dabei fühle mich einfach lebendig und glücklich. Es fühlt sich einfach echt an, real irgendwie. Ich spüre die Erde unter meinen Fingernägeln, die warmen Sonnenstrahlen, den Schweiß auf meiner Haut, meine brennenden Muskeln, meinen Atem, die raue Rinde der Wurzel. Ich bin ganz bei mir, ganz bei meiner Aufgabe, ganz im Jetzt. Und es ist, als wäre da so eine Verbindung zwischen mir und der Welt, die ich nicht spüre, wenn ich durch eine asphaltierte Straße laufe und tausende Reize gleichzeitig auf mich einstürzen.“ Sie sagt, dass sie sehr gut verstehen kann, was ich meine und ich glaube ihr. Ich spüre, dass es so ist und das fühlt sich wirklich gut an.
„Ich sag ja, so eine Kommune wäre echt dein Ding.“, lacht sie und spielt auf eine frühere Situation an. „Hahaha, ja ich weiß ja nicht. Glaube mein Traum von einem alten Haus am See mit großem Garten und Wald dahinter wär eher so mein Ding. Ich brauch nur noch wen, der mit mir dort wohnt.“ Wir grinsen uns an. „Aber vielleicht hab ich bis dahin ja nen Hund.“, füge ich hinzu und lächle.