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schuldig

Sie gab sich die Schuld an dem, was passiert war und dass sie im Bewusstsein seiner Situation dennoch so gehandelt hatte, sich von ihren Gefühlen hat verleiten lassen. Den Blick sanft, aber entschlossen aus dem Fenster der Bahn gerichtet, dachte sie darüber nach, wie es ihm wohl jetzt gehen musste. Konnte er ihr jemals verzeihen? Und war das für sie überhaupt wichtig? War es nicht viel wichtiger für sie gewesen, den Schritt zu gehen, den sie gegangen war, auch wenn sie aus ihren Gefühlen heraus gehandelt und es doch eigentlich besser gewusst hatte?
Ein dumpfer Schmerz saß in ihrer Brust und ihr war schlecht. Eigentlich, dachte sie, ist es so vielleicht für uns beide besser. Oder versuchte sie sich nur ihre Schuld schönzureden? Vor dem Fenster zogen die grüne Landschaft und ein wolkenverhangener Himmel vorbei. Regentropfen zerplatzten an der Scheibe wie Tintenflecken auf Papier. Sie erinnerte sich noch zu gut an ihre Grundschulzeit und die auslaufenden Füllfederhalter. An blaubefleckte Kinderfinger. Damals war alles noch so leicht gewesen, zumindest fühlte es sich für sie jetzt so an. Zwischenmenschliches konnte noch mit Streitschlichtern gelöst werden, die an der Schule auserwählt wurden und mit einem orangen Banner um den Oberkörper durch die Pausen zogen. Nun brauchte es mehr als einen Sechstklässler, der einen außerschulischen Kurs besucht hatte, um zwischen Schülern und Schülerinnen zu vermitteln. Schuld, dachte sie, was war das nur für eine Emotion?
Sie fühlte sich wie der schlechteste Mensch auf Erden, so als wäre alles Gute, das sie bisher in ihrem Leben getan hatte, mit einem Mal vergessen. Als hätte dieser Fehltritt sie selbst auf der Skala des Selbstwerts in den Keller katapultiert. Sie hatte einen Fehler begangen, ja, aber -und das hatte auch schon ihre Freundin zu ihr gesagt- Menschen machen nun mal Fehler.
Sie machte nun mal Fehler, es führte kein Weg daran vorbei, auch wenn es ihr seit jeher schwerfiel, Fehler nicht als Versagen, sondern als Chance auf Verbesserung oder Veränderung zu sehen. Der Mann auf dem Sitz ihr gegenüber erwachte blinzend aus seinem Nickerchen, rieb sich mit seinem Stofftaschentuch über den kahlen Kopf und zwinkerte diffus von rechts nach links, bis seine Augen anscheinend scharf gestellt hatten. Er griff nach der Zeitung auf dem Tisch zwischen ihnen. Schwungvoll schlug er sie auf und verschwand dahinter. Auch sie wendete sich wieder ihrer Beschäftigung, der Landschaft vor dem Fenster, zu.
Sie hatte irrationale Gedanken, stellte sich vor, wie ihre Freunde sie verurteilten, wenn sie erfuhren, wie sie gehandelt hatte und in welcher Situation er sich doch befand. War sie sich wirklich so sicher, dass niemand sie verstehen könnte? Und spielte das überhaupt eine Rolle? Schließlich hatte die Beziehung zwischen ihm und ihr kaum jemand je verstehen können. Ja, nicht einmal sie selbst hatte es geschafft, das zu tun. Vielleicht gab es da auch nicht so viel zu verstehen, vielleicht blieben manche Dinge einfach kompliziert, egal, wieviel man über sie nachdachte oder redete. Vielleicht war es genau dieser unbändige Drang in ihr, Menschen und ihre Handlungen verstehen zu wollen, der sie bis jetzt davon abgehalten hatte, endgültig loszulassen. Vielleicht sollte sie einfach akzeptieren, dass diese Beziehung, egal in welcher Form, zum Scheitern verurteilt war. Draußen peitschte der Regen, rann in Schlieren an der Scheibe hinab und wurde vom Fahrtwind horizontal über das Glas gezwungen. Es sah aus wie ein Regentropfenwettrennen.
Sie fühlte sich wie das Arschloch, ja. Vielleicht war sie das auch, und konnte genau deswegen nicht damit umgehen, weil sie diese Rolle noch nie gespielt und nie gewollt hatte und auch jetzt nicht wollte. Alles was sie gewollt hatte, war, für ihn da zu sein – und dennoch hatten sie die Situation und ihre unverarbeiteten Gefühle für ihn, dazu gebracht, so sehr aus ihren Emotionen heraus zu reagieren. Ja, sie hatte die richtige Entscheidung getroffen, trotzdem hatte sie – wieder einmal- ihren Gefühlen die Kontrolle übergeben und sich nicht beherrschen können.
Aber wie sollte das auch gehen, wenn in diesem Moment alles in ihr drin danach schrie, rausgelassen zu werden? Das war es, was sie lernen musste: Loszulassen, Kontrolle abzugeben, aber genau diese bei ihren Emotionen zu behalten. Durchzuatmen, zu zählen und sich nicht in ihrer Gefühlswelt zu verlieren wie ein Schiffsbrüchiger im Meer, wie es sich dann oft anfühlte. Ihr einziger Anker schien in diesen Momenten das Rauslassen zu sein.
Sie wusste, dass das alles keine Entschuldigung für das war, was sie getan hatte und trotzdem fiel es ihr leichter, ihren Fehler zu akzeptieren und ihr selbst zu verzeihen, wenn sie verstand, warum sie so gehandelt hatte.
Ihm geht es doch so eh besser, sagte sie sich und ließ den Blick durch den Waggon des Zuges gleiten, betrachtete die Menschen, die gedankenverloren aus dem Fenster oder in ihr Handy starrten. Schließlich war er schon weiter als sie was das alles anging und sie wusste auch, dass er sie nicht in seinem Leben brauchte, auch, wenn es sich so vertraut angefühlt hatte. Schließlich brauchte sie ihn ja auch nicht mehr, auch wenn immer noch etwas in ihr zu glauben schien, dass das anders sei. Doch sie wusste es besser.
Uns geht es so beiden besser, dachte sie und richtete ihren Blick aus der Vergangenheit in die vor ihr liegende Zukunft, denn sie saß in einem Zug zu einem neuen Abenteuer.

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