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seit ich fünfzehn bin

Mit fünfzehn habe ich Briefe geschrieben.
Sie waren mein Tagebuch, meine Möglichkeit, ehrlich zu sein zu einem fiktiven Empfänger und zu mir selbst. Einer dieser Briefe beginnt mit der Frage „Kennst du das, wenn man sich einsam fühlt, obwohl man von Menschen umgeben ist, die man liebt?“
Einsamkeit, eine Leere im Innern, ein stiller unauffälliger Schmerz, den man nicht immer sofort einordnen kann. Ich kenne sie, seit ich fünfzehn bin, oder schon länger.

Seit ich geboren wurde, wurde ich geliebt. Meine Eltern lieben mich, mein Bruder liebt mich, meine Familie liebt mich. Ich hatte Freunde, war in der Schule beliebt.
Und trotzdem war sie da.
Ich war wie eine Muschel. Hart und fest verschlossen und butterweich im Innern. Ich wollte mich niemandem öffnen, hielt Tränen und Gefühle für schwach, und wollte alles sein, nur nicht schwach. Ich wollte Eindruck machen. Wollte cool sein, wollte mithalten, wollte meine Zweifel, meine Unsicherheit, meine Einsamkeit niemandem zeigen. Ich wollte nicht fühlen, was ich eigentlich fühlte. Und dann spürte ich mich nicht mehr, fühlte mich fremd in meinem eigenen Körper, unter meinen eigenen Freunden. Sie kennen mich nicht, sagte ich mir. Sie alle kennen mich nicht, wissen nicht, wie ich leide, wie leer es in mir ist, während ich alle anderen mit dummen Witzen zum Lachen bringe. Das konnte ich gut, mich zum Affen machen, tollpatschig sein, die Coole spielen, damit alle lachen und sie meine Schale nicht knacken.
Das Papier war mein Freund. Das Papier hörte mir zu, verurteilte nicht, das Papier war immer da, wenn ich es brauchte. Es half mir, alles rauszulassen, half mir Sachen loszuwerden, mir über Dinge klarzuwerden. Das Papier stellte keine Fragen.

Ich habe immer gesagt, meine Freunde kannten mich nicht. Nicht wirklich. Dabei habe ich ihnen nie eine Chance dazu gegeben. Ich verschloss meine Schale, ließ nichts Schlechtes heraus, aber auch nichts von dem Guten. Ich redete nicht. Nicht über das, was da eigentlich alles in mir schmorte. Selbst vor meinen Freundinnen war mir ein Lächeln immer lieber als eine Träne, so war unsere Freundschaft einfach nicht, über solche Dinge sprachen wir nicht.

Ich wurde älter, machte Abitur, ging ins Ausland für zwei Monate. Ich kam zurück und zog aus, schwebend zwischen zwei Lebensabschnitten, enttäuscht von meinem Versagen bei einem Eignungstest, wartend auf den Beginn meines neuen Lebens, eines besseren Lebens. Ich verliebte mich zum ersten Mal, hatte eine Beziehung zum ersten Mal. Mein Herz brach zum ersten Mal, ich brach zusammen zum ersten Mal. Die Einsamkeit begleitete mich wie eine treue Freundin. Sie war da, mal im Hintergrund, mal vergiftete sie ganz bewusst meine Gedanken. Ich gehörte nirgendwohin außer zu meiner Familie und selbst dort wollte ich nicht mehr sein. Ich wollte auf eigenen Beinen stehen, meine eigene Geschichte schreiben. Mein Studium begann, das Warten und meine Beziehung hatten ein Ende und ich wollte endlich in mein Leben starten. Loslegen. Vorwärtskommen.
Doch dann stand plötzlich Corona im Raum, wischte uns weg wie Scheibenwischer tote Fliegen auf der Windschutzscheibe: mühelos, ohne Zögern, ganz unerwartet.
Das Alleinsein, das Zuhause-Sein wurden zum Alltag, die Einsamkeit zog in meine neue Wohnung gleich mit ein. In der Uni nur eine Zahl, nur ein Gesicht in einem kleinen Kasten auf dem Bildschirm, nur ein Name auf einem Prüfungsblatt. Auf der Arbeit nur eine Aushilfe, ein junges Gesicht, das nicht lange bleibt. Unter Freunden, die mit dem gebrochenen Herzen und den melancholischen Gedanken. Zuhause in meiner Wohnung die, die mit dem Alleinsein kämpft wie mit einem unliebsamen Freund.
Ich kenne viele junge Menschen, die sich einsam fühlen. Ich kenne viele junge Menschen, die sich Hilfe gesucht haben und ich bin dankbar, dass sie es tun und ich bin dankbar, dass ich es getan habe.
Es gibt so viele Menschen auf dieser Erde, in diesem Land, in dieser Stadt. Und doch sehen wir uns nicht, wir schauen aneinander vorbei, oder sehen nur die Schale, doch nicht viel weiter. Wir wollen beliebt sein, viele Menschen kennen, wollen Erfolg haben und unseren Sinn finden. Wir wollen mithalten, beruflich und sozial, denken stark zu sein, heißt, nie schwach zu sein. Doch stark zu sein, heißt, zuzulassen, dass die Menschen, die wir lieben, wissen, wer wir wirklich sind. Was wir fühlen, was wir denken, wie es uns im Innern geht. Stark zu sein, heißt, die Einsamkeit zu teilen, die Wut, den Frust, die Trauer, genauso wie die Freude und die Liebe und ein Lachen. Und wir vergessen zu teilen, wie allein wir uns fühlen, weil wir denken, es würde nur uns so gehen. Dabei vergessen wir so oft, dass jeder Mensch nur ein Mensch ist, egal wie perfekt oder sorglos er von außen wirken mag. Und Einsamkeit ist ein Gefühl wie jedes andere, das jeder Mensch schon einmal gefühlt hat.

Mittlerweile hält die Einsamkeit nicht mehr meine Hand. Sie hat es nicht leicht, mich festzuhalten und ich lasse sie immer wieder los, wenn sie mich packt. Einsam zu sein, ist genauso ein Gefühl wie glücklich zu sein. Doch das eine geht mit Scham einher, das andere mit Liebe und Freude und Wertschätzung. Ich habe gelernt, die Schale zu öffnen, in die ich mich eingeschlossen habe. Ich habe gelernt, die Kraft und Stärke zu sehen, die in Verletzlichkeit und Offenheit liegen. Ich habe gelernt, ehrlich zu sein, zu mir und zu anderen und zu dem zu stehen, was ich fühle.

Als ich mich öffnete, öffneten sich auch die anderen. Als ich über meine wahren Gefühle sprach, sprachen auch die anderen über ihre. Als ich auf andere zuging, kamen sie mir entgegen. Als ich sagte, was ich wirklich dachte, traf ich auf Zustimmung und Verbundenheit, auf Dankbarkeit über meinen Mut. Jeder von uns ist mutig, genau wie jeder von uns mal einsam ist, weil wir Menschen verletzlich sind und genau das unsere Stärke ist.

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