Ein unbeschriebenes Blatt. Dein Leben. Du. Weiß, rein und leer. Vollkommen leer, bereit die Spitze des Kulis zu spüren. Bereit gefüllt zu werden. Mit schwarzen, grauen, roten, gelben, blauen, grünen Strichen. Mit Stickern und Bildern und vielleicht sogar Glitzer. Mit dunklen Kleksen, die aussehen wie Tränen und angekokelten Ecken, mit Eselsohren und vielleicht dem ein oder anderem Loch.
Ein unbeschriebenes Blatt. Dein Leben. Du selbst. So stelle ich es mir vor, so sollte es sein. So sollte man sich selbst betrachten.
Sobald sich der Zeiger der Uhr einen Zentimeter weiterbewegt, die in dem Krankenhauszimmer, in dem du geboren wirst, an der kargen Wand hängt, füllt sich das weiße leere Blatt, Stück für Stück. Es wird beschrieben, von dir, von anderen, vom Leben. Erst ganz tapsig und unbeholfen, dann immer sicherer, mal drückst du mehr auf, mal weniger, mal spürt man die Wut und Traurigkeit, die Verzweiflung und den Schmerz in deinen Bewegungen, dann wieder das Glück, die Wärme und den Spaß. Aber manchmal, manchmal stelle ich mir vor, wie ich alles wegwische, wie ich einen Radierer nehme und einen Tintenkiller und vielleicht einen TipEx, um Dinge zu verdecken unter neuem reinem Weiß. Wie alles wieder unbeschrieben ist. Ich und mein Leben, wie nichts in mir ist, außer ich selbst. Und wir können das. Wir können uns vorstellen, dass es unbeschrieben ist, dass nichts mehr drauf ist, alles auf Anfang, aber es ist nicht so. Nicht in Echt, es ist eine Vorstellung. Eine, die wirklich gut ist.
Du entscheidest, welche Striche du dann als nächstes setzt. Nicht, welche verschwinden, weil sie immer da sein werden, auch unter einer Tip Ex Schicht, aber du entscheidest, welche noch kommen. Das Leben entscheidet, was dein Blatt als nächstes befleckt oder verschönert.
Und manchmal, ja, manchmal glauben wir, dieses Blatt sei bereits beschrieben oder gar bereits fertig. Wir glauben manchmal wir könnten etwas falsch machen, einen Strich falsch setzen, ein Zeichen anders malen, als wir es eigentlich vorhatten. Wir hadern und stellen uns vor und denken und haben Angst. Keine Angst vor unserem Blatt, nicht davor, was wir darauf sehen, wie wir es bis jetzt gefüllt haben, sondern vor dem Schritt, nun den Stift oder Pinsel oder Füller in die Hand zu nehmen und einen neuen Strich zu setzen. Wir zögern, gerade weil wir nicht wissen, wie wir unser Blatt gestalten wollen, mit was wir glücklich sein werden, was uns zufrieden stellt. Wir haben heutzutage Kisten voller Werkzeuge und Stifte und Schwämme und Pinsel vor uns, können Filsstifte, Aquarell, Farbe, Kuli, Bleistift, Ton, buntes Papier, Glitzer, Sticker und tausend andere Dinge verwenden, um unser Blatt zu füllen, um das leere reine Weiß zu Etwas zu machen, auf das wir stolz sein können.
Aber manchmal wissen wir nicht, wie. Wir wissen nicht, welche Technik uns liegt, in was wir talentiert sind und ob wir uns diese eine besondere Farbe überhaupt leisten können für unser Blatt. Wir zögern.
Wir stehen vor diesen Kisten, vor diesen Regalen voller Möglichkeiten und stellen uns vor, mit was wir wohl das beste Ergebnis erzielen. Schließlich ist es entscheidend, was wir als nächstes mit unserem Blatt tun, wir haben nur dieses Eine. Rein und weiß und leer, beschrieben, leicht gezeichnet durch die Zeit und unser Leben, aber es liegt noch so viel vor uns, wie sollen wir also wissen, was für diesen ganzen riesigen Rest das Richtige ist?
Rostrot oder Magenta? Okka oder Sonnengelb? Dieses dunkle, mitteldunkle Blau oder sollte ich sogar das Türkis da drüben wagen? Aber nein, warte, das findet Paula ja bestimmt nicht gut. Und vielleicht ist es auch zu teuer, ja ganz bestimmt, nicht, dass ich mir dann gar nichts mehr leisten kann. Und das da drüben vielleicht? Das sieht zwar nicht so schön kräftig aus wie das andere, aber es ist billiger… Und ständig ist diese Stimme in unserm Kopf, die uns sagt, dass wir etwas tun müssen, uns entscheiden müssen, dass Paula viel schönere Farben verwendet hat und wir uns das früher hätten überlegen sollen, aber ja, jetzt ist es zu spät. Jetzt ist der Strich schon gesetzt.
Wir zögern, wir hadern, wir stellen uns vor. Wir denken, dieser eine Strich ist der Entscheidende, das, was unser restliches Blatt bestimmt, es dominiert und das Ergebnis versauen kann. Natürlich denken wir das, weil wir nichts löschen können, wir können nichts darauf rückgängig machen. Jeder kennt es, dass man trotz Radiergummi die Spuren des Blei- oder Buntstifts erahnen kann, dass der Tintenkiller gelbe Flecken hinterlässt und unter der weißen Schicht des Tip Ex etwas Verborgen liegt, dass sich ein leichter Hügel auf der glatten Oberfläche des Papiers bildet.
Wir können nichts löschen, nichts rückgängig machen, wir hadern, wir zögern, wir suchen die eine perfekte Option unter den Tausenden, die wir haben. Es ist nicht wie bei unseren Großeltern, die sich nur zwischen Bleistift und Füller entscheiden konnten, die keine große Wahl hatten, als das, was da war. Aber wir haben die Wahl zwischen all diesen Mitteln, Materialien und Techniken und genau das erschlägt uns manchmal. Kracht nieder von den Regalen und verschüttet uns unter sich. Und unser Blatt bleibt weiß. Dabei müssten wir doch einfach nur los malen. Einen Stift greifen und schauen, wie die Farbe wirkt auf unserem Weiß. Und vielleicht probieren wir es damit eine Weile, aber vielleicht tauschen wir ihn auch einfach gegen etwas Neues aus, etwas anderes, etwas, von dem wir nicht wissen, ob wir ein Talent dafür haben. Aber etwas, das uns anzieht, uns auf unserem Weg durch den Laden voller Künstlerbedarf direkt vor die Nase läuft. Nicht zögern, zugreifen.
Denn das unbeschriebene Blatt, das bist du. Dein Leben. Und es ist schon lange nicht mehr unbeschrieben, es ist gezeichnet von dem Vergangenem, das du nicht löschen kannst, nicht ändern, aber vielleicht verzieren mit dem ein oder anderem neuen Schnörkel.
Es gibt nicht die eine Option, nicht den einen Weg, nicht den einen Stift, den du dein Leben lang fest in der Hand hältst. Es gibt Unzählige und sie alle, sie alle könnten deine Zukunft sein. Nicht zögern, keine Angst, du kannst dein Blatt nicht versauen, auch, wenn du nur dieses eine hast. Nichts, was du jetzt entscheidest, ist für immer, wenn du es nicht willst. Zum Glück ist es so. Du kannst jederzeit den Stift oder die Technik wechseln.
Und du weißt nicht, was dieser Strich wirklich mit deinem Blatt, mit deinem Kunstwerk, anstellt, wenn du die Spitze nie aufs Papier setzt.
Was für eine wunderschöne Metapher! Ich bin gespannt auf die Gemälde, die wir begonnen haben zu zeichnen 🙂 Und auch wenn ich nie gut in Kunstgeschichte aufgepasst habe, bin ich mir sicher, dass wir alle Stilrichtungen vorangegangener Künstler auch in unseren Kunstwerken sehen werden. Irgendwann mal.
Danke für die poetischen Worte!
Darauf bin ich auch sehr gespannt 🙂 Und das Schöne daran ist ja, dass jedes unserer Gemälde komplett einzigartig wird und sie trotzdem miteinander verbunden sind. Danke für deine Worte und deinen Kommentar, Lauri :*
Wow! Was für starke Worte du wieder gefunden hast. Genauso ist das Leben! Genau das macht das Leben aus! Um beim Malen zu bleiben….ich bin seit kurzem dabei es wieder zu finden bzw. neu zu entdecken…Strich für Strich ein Bild entstehen zu lassen. Wenn einer das weis, dann bist du das. Und die für mich am schönsten Bilder sind entstanden, als ich nicht geplant hab was entsteht soll…als ich auf meinen Bauch gehört hab…einfach Strich für Strich…in der Farbe und Technik, die ich gerade ausprobieren wollte. Jeder Strich ist gut und gehört zum Kunstwerk….egal wie es andere finden. Klar, am Anfang und auch manchmal zwischendurch ist der Kopf gefragt, wenn es um die Technik geht. Total spannend genauso wie das Leben. Wir bemalen alle unsere Lebens-Leinwand und dazu gehört, das wir auch ungünstige Striche und Farben nur bedingt übermalen bzw. verändern können….ein kleines Stück wird immer Teil unseres Gemäldes sein. Und das ist auch gut so, weil diese Striche uns neue Impulse für weitere Striche geben. Wichtig ist, das jeder sein eigener Künstler bleibt und sein Kunstwerk von Herzen inspirierend findet und nichts darauf gibt, was Andere dazu sagen. Und…mal ehrlich…es wäre doch total langweilig schon zu wissen wie das Bild am Ende aussieht. Charly, zeichne weiter und glaub mir…du hast schon ne Menge toller Striche auf dein Bild gesetzt.
Danke für deine von Herzen kommenden Worte, Mama. Sie sind sehr wahr und du hast Recht, manch einen Strich, den wir gern ändern oder auslöschen würden, können wir nur verändern, ihn übermalen oder „verschönern“, aber er wird immer ein Teil von uns sein und uns prägen und vielleicht ist es genau das, was uns aus macht. Wodurch wir werden, wer wir sind.