widersprüchlich

Ich bin Meer. Ich gleite sanft dahin, bin still und tief und manchmal dunkel. Ich bin ruhig, so ruhig, dass sich die Oberfläche nicht kräuselt, ganz glatt ist wie ein Spiegel, in dem sich der Himmel und die Sonne abzeichnen. Ich bin stürmig und wild, bin laut und aufbrausend, werde angefeuert durch den Wind, der meine Wellen immer höher und höher schlagen lässt. Ich umspüle ganz leicht und zart die Füße der Menschen, die an meinem Strand entlang gehen, ich locke sie hinein ins kühle Nass, rufe nach ihnen, ziehe ihre Blicke auf mich, die hypnotisch meinen Wellengang betrachten.
Meine Wellen gehen schwer und leicht, ein ewiges Hin und Her, ein Auf und Ab, ein stetiger Rhythmus, der niemals verstummt. Ein Lied, das immer über meine blaue Decke schallt, das den Seefahrern Geschichten ins Ohr flüstert und sich mit dem Klagen der Möwen verbindet, die über mir hinwegziehen. Ich bin leise und laut, klein und groß, jung und alt. Ich bin widersprüchlich. Meine Wellen schlagen gegeneinander, verhaken sich und kämpfen in einem schäumenden Duell. In meinen dunklen Tiefen schlummern tausende geheime Geschichten, die kein Forscher aufdecken konnte. Ich wiege die Boote ganz sanft und zärtlich zwischen meinen nassen Armen oder zerbreche sie in Bruchstücke unter unheilvollen Gewitterwolken.

Ich bin widersprüchlich. Ich bin Meer. Mehr als Meer. Ich bin ich. Ich will das eine und meine das andere. Ich fühle Liebe und Sonne im Herzen und dann wieder nur Schmerz. Weltschmerz. An manchen Tagen denke ich viel zu viel nach, an anderen zu wenig. Ich lache und singe und tanze und starre dann wieder nur ins Leere, gepackt von Melancholie und Tiefe. Am liebsten wäre ich nur draußen, nur in der Natur, umgeben von Wald und Bergen, von Wasser und Sonne, während ich mich aber gleichzeitig danach sehne in der Stadt zu wohnen, wo es laut und voll und grau ist, um das pulsierende Leben zu spüren, das selbst nachts nicht schläft. Ich mag es zu lernen, zu schreiben, Dinge zu verstehen und anzuwenden und trotzdem würde ich die ganze Theorie manchmal gerne über Bord werfen und einfach machen. Mit den Händen, mit den Füßen, mit dem Körper, einfach machen.
In mir gibt es etwas, das mich nach draußen treibt, das sich nach Abenteuern, nach Erlebnissen und Freiheit sehnt. Nach Erfahrungen und Rumkommen. Doch gleichzeitig liebe ich Abende im Bett mit Netflix und guter Gesellschaft. Mit Ruhe und Nachdenken, mit Nachhausekommen und für sich sein. Ich bin gern allein und irgendwie auch nicht. Wär am liebsten die ganze Zeit unterwegs, doch auch nicht zu viel.
Ich bin emotional. Ich weine und lache und tue Dinge, einfach, weil sie sich gerade richtig anfühlen, nur um sie später wieder zu bereuen. Um etwas rückgängig zu machen, das nicht mehr rückgängig zu machen geht. Ich denke nicht nach und irgendwie doch zu viel. Ich bin impulsiv. Ich bin Meer. Wellenartig. An einem Tag lässt die Sonne die schäumenden Kronen meiner Wellen wie Diamanten funkeln, alles ist geil und nice und mega, ich bin unbesiegbar und unabhängig und brauche ja niemanden außer mich selbst, um dann am nächsten Tag alles ganz schwer zu finden, alles zu fühlen, den Schmerz und die Last von anderen zu spüren, zu weinen ohne Grund, alles dunkel und grau und mich ganz klein zu empfinden.
Ich bin widersprüchlich. Ich bin Meer. Wellenartig. Es kommt und geht. Ich kann mich nicht entscheiden, bei ganz kleinen und ganz großen Sachen. Ich treffe manchmal viel zu spät und manchmal viel zu früh Entscheidungen, die einen aus dem Bauch heraus, die anderen aufgrund von meterlagen Pro-Contra-Listen. Ich esse herzhaft, nur um danach etwas Süßes essen zu können. Ich liebe Planung und Struktur und Organisation, aber nicht zu viel, sonst fühle ich mich eingeengt und meiner Freiheit beraubt. Ich brauche Spontanität, eine Nachricht, eine Frage und dann los. Einfach los, ohne Nachdenken, ohne Plan. Und dann wieder Plan, sonst fühle ich mich planlos und als würde ich im Leeren treiben. Mein Spotify Account enthält von klassischer Pianomusik über Pop und Oldies bis hin zu Deutsch Rap und Reggae alle möglichen Stile, weil ich alles passend finde, irgendwie und irgendwann in verschiedenen Momenten. Und ich mag kein Rosa, aber finde es bei anderen schön. Ich trage Wörter und Metaphern, Poesie und Kreativität in mir, während ich andererseits am liebsten 24/7 irgendwo auf einem Sportplatz wär mit ein paar Bällen und Gleichgesinnten, solange, bis die Muskeln brennen. Muskeln brennen und Auspowern ist sowieso gut, immer, Gedanken aus, Kopf frei und dann wieder an, ruhige Musik und Tee und mein Lieblingskuli und Papier und Schreiben. Nur Schreiben. Bis ich keine Wörter mehr in mir, nichts mehr zu sagen habe, nichts mehr in mir außer Stille.
Ich schwanke. Ich schwanke wie das Boot auf meinen Wellen, hin und her, auf und ab. Wellenartig. Mal leise und ruhig, mal laut und aufschäumend, mal spiegel ich die Sonne, mal graue Wolken in mir. Ich bin Meer. Ich bin unendlich tief, aber am Strand ganz flach, dort, wo die Menschen ihre Zehen in den Sand graben und ihren Blick über meine Weite schweifen lassen. Bis zum Horizont. Ich bin unendlich, unergründet, nicht mal ich selbst kenne jeden Winkel von mir. Ich bin ein Widerspruch in sich. Gegensätze, die so viel Gemeinsamkeit in sich tragen, denn ich bin ich. Ich bin Meer.

(6) Kommentare

  1. Charly sagt:

    Wie schön ist es eigentlich ein Widerspruch in sich zu sein? 😀
    Erkennt sich jemand in manchen Dingen wieder? Geht es noch jemandem so? 🙂
    Freue mich über jeden Kommentar 😉

    1. Matthew Hopkins sagt:

      Das Bewusstsein über seine inneren Widersprüche markiert doch die Geburtsstunde eines jeden Künstlers, nicht wahr ? Ist nicht das Leben als solches ein einziger Widerspruch, da man um es zu leben, den Tod lieben lernen muss ? Ist der Widerspruch als solches nicht das Unwidersprüchliste überhaupt, eben weil er sich selbst bedingt ?

      I was always looking for the girl with the sun in her eyes, maybe I found her.

      – M.H

      1. Charly sagt:

        Ich glaube Widersprüche sind auch etwas ganz Natürliches und kein Mensch kann Schwarz oder Weiß sein, so wie auch alles andere nicht nur Schwarz oder Weiß sein kann. Es sind eher viele tausende Grautöne und Schattierungen. Und gerade diese inneren Widersprüche, die man als Mensch ja in sich trägt, machen es doch auch gerade spannend, oder? Weil wir selbst ja auch einem ständigen Wandel unterliegen, kann man ja auch nie sagen, ich bin so und so und werde mich nie ändern. Zumindest fände ich es traurig, wenn es Menschen gibt, die so unflexibel sind, schließlich sind es ja auch zu einem großen Anteil die Umstände und die Menschen, die uns umgeben, die uns zu dem machen, der wir sind.

        Bewusstsein darüber zu haben, kann vielleicht wirklich ausschlaggebend für einen Künstler sein. Denn die besten Künstler sind nach meiner Erfahrung die, die aus ihren Emotionen heraus etwas erschaffen und was ist widersprüchlicher, als menschliche Gefühle?
        Was ist veworrener und schwerer zu erklären, als Emotionen wie Liebe, Wut, Freude oder Schmerz?
        Das Leben an sich kann man als Widerspruch betrachten, wenn man darüber nachdenkt, dass wir nur leben, um irgendwann zu sterben. Das ist etwas, das wir alle, jeder einzelne Mensch, gemeinsam haben.

        Danke für deinen Kommentar, wirklich spannende Gedanken

  2. Jojo sagt:

    Das ist so ein guter Text. So schön geschrieben. Er hat mich irgendwie tief berührt und ich habe mich in vielen Sachen wieder erkannt, aber gleichzeitig immer über dich nachgedacht. Ich glaube, keiner könnte dich besser beschreiben als du es mit diesem Text gemacht hast. Das ist nicht so eine gezwungene Metapher, wie man sie oft kennt, sondern diese Metapher hat richtig Tiefe und passt so gut zu deiner Persönlichkeit.

    1. Bennet sagt:

      „In meiner Brust schlagen zwei Herzen, mal lauter mal leiser und nicht immer im Takt, aber in meiner Brust habe ich für zwei Herzen Platz“… Beim Lesen deines Textes kam mir diese Zeile aus einem Sasha-Song in den Kopf. Das Meer als Metapher zu wählen, trifft es. Eine Zerrissenheit, die man doch irgendwie als Ganzes begreifen muss. Vielleicht verbirgt sich hinter diesen ganzen Wiedersprüchen ein Einklang und vielleicht sind diese ganzen „obwohls“, diese ganzen „abers“ am Ende des Tages doch nur verkappte „weils“.

      PS: Ich weiß nicht warum, aber irgendwie war der eine Satz: „Und ich mag kein Rosa, aber finde es an anderen schön.“ beim Lesen so zentral im ganzen Text für mich. ^^

      1. Charly sagt:

        „Zerissenheit, die man als Ganzes begreifen muss“ passt sehr gut zu diesem Gefühl. Auch, wenn es oft schwierig ist es als Ganzes zu sehen, weil wir heutzutage so oft in Schubladen und in Schwarz oder Weiß denken, dass man manchmal glaubt, es wäre nicht berechtigt oder akzeptiert, vermeintlich Gegensätzliches zu empfinden, gut zu finden oder zu wollen. Aber letztendlich kommt es nur darauf an, dass man sich selbst so akzeptiert, auch mit dieser inneren Zerissenheit. Ein Prozess, der aber Zeit braucht, wie ich finde.
        Sehr interessant, dass dieser Satz für dich so zentral in diesem Text ist 🙂
        Tatsächlich war dieser Satz auch komplett intuitiv, er war geschrieben, bevor ich überhaupt drüber nachgedacht hatte. So wie es ja auch sein soll beim Schreiben 🙂 Und wenn ich genauer drüber nachdenke, weiß ich auch, warum dieser Satz so zentral auf dich wirkt und warum er es wahrscheinlich sogar wirklich ist…

        Danke für deine bereichernden Ansichten 😀
        LG Charly

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