Vitamin C

Kennt ihr das Gefühl, euer Leben unter Kontrolle zu haben, wenn ihr die Küchenarbeitsfläche abwischt, sie von Brotkrümeln und Soßenflecken befreit? Oder wenn die Waschmaschine und der Geschirrspüler leise vor sich hin brummen? Wenn die Geräusche des Haushalts durch die Wohnung summen und warmes Sonnenlicht durch unbefleckte geputzte Glasscheiben fällt? Kennt ihr dieses befriedigende Gefühl der Kontrolle?
So als könne man wirklich etwas verändern im eigenen Leben, als hätte man wirklich alles im Griff.
„Jedes System strebt nach Unordnung.“, sagte meine Chemielehrerin damals und noch heute schießt mir der Satz manchmal in den Kopf.
Ist es nicht so, dass wir nichts anderes tun, als immer und immer wieder Ordnung in unser System zu bringen? Und das immer wieder aufs Neue?
Seien es die Ordnung im Zimmer, die Dateien auf unserem Computer, die Kleidung in unserem Schrank, die Gedanken in unserem Kopf, die Gefühle im Innern?
Jedes System strebt nach Unordnung und jeden Tag unseres Lebens verbringen wir damit, Ordnung ins Chaos zu bringen oder es erst gar nicht entstehen zu lassen – Denn Leben heißt konsumieren und konsumieren heißt Anhäufung, Abfall, Verbrauch, Verlust.
Wir können nicht leben, ohne zu konsumieren, jedes Lebewesen braucht Konsum, um zu leben. Wenn wir geboren werden, konsumieren wir die Liebe oder die Ablehnung unserer Bezugspersonen. Wir konsumieren bereits Nahrung durch die Nabelschnur, wenn wir noch nicht mal auf der Welt sind und hören nicht damit auf, bis unsere Atmung zum Stillstand kommt und wir selbst von Mikroorganismen in der Erde konsumiert werden, die uns in den Kreislauf des Lebens zurückführen.
Bis dahin, ist das Leben ein Prozess, in dem wir nie einen Punkt erreichen, an dem wir nichts mehr brauchen, um zu leben.
Wir brauchen immer etwas. Wir konsumieren immer etwas.
Und dieser Konsum macht etwas mit uns, er hat Einfluss auf uns und vielleicht ist es deswegen so wichtig, Ordnung ins Chaos zu bringen und darauf zu achten, was es ist, das wir täglich konsumieren, welchen Einfluss die Dinge, Lebensmittel, Medien, Hobbies und ja auch Menschen auf uns haben.

Kennt ihr dieses Gefühl, euch erdrückt zu fühlen von allem um euch? Von den Dingen und Sachen in eurer Wohnung, von den Verlockungen und Verführungen unserer Zeit?
Kennt ihr dieses Gefühl, einfach nur sein zu wollen?
Ganz pur, ganz echt, ganz leicht.
In Momenten, in denen ich am wenigsten bei mir habe, sei es bei einem Spaziergang durch den Wald oder beim Camping am Meer, wenn man nur barfuß herumläuft und den ganzen Tag keinen Spiegel und kein Handy sieht, bin ich am glücklichsten.
Dann bin da nur ich und die wenigen Dinge, die ich brauche, um zu leben. Die wirklich nötig sind, zu konsumieren. Ich spüre den Unterschied, ob ich ein Buch lese, das wirklich interessant ist, ob ich Musik höre oder seit einer Stunde am Handy hänge oder die zigste Folge einer Serie schaue.
Ich spüre den unterschiedlichen Einfluss dieses Konsums auf mich.
Und viel zu oft, gebe ich dem nach, das mir weniger gut tut – Aus gesellschaftlichem Druck? Aus Fear of Missing Out, der Angst etwas zu verpassen? Oder aus Gewohnheit und Bequemlichkeit?

Vielleicht gibt es uns ein Gefühl der Kontrolle viele Dinge zu besitzen, von denen uns suggeriert wird, sie würden uns glücklich machen? Vielleicht befriedigen wir damit ein scheinbares Bedürfnis nach etwas, das Werbetafeln, Fernsehspots oder Social-Media-Anzeigen in uns wecken wollen?
Vielleicht ist es die Freiheit darüber zu entscheiden, was wir uns kaufen und was nicht, was unser Kontrollbedürfnis befriedigt. Was uns Sicherheit gibt.
So als würden wir durch die Dinge, die wir kaufen und die Inhalte, die wir konsumieren, Einfluss auf unser Leben und dessen Qualität nehmen können.
Und dabei können wir ja auch bis zu einem gewissen Punkt Einfluss durch unseren Konsum auf unser Leben nehmen, aber es ist dennoch ein Trugschluss zu glauben, wir könnten wirklich die Kontrolle über unser Leben haben, denn letztendlich müssen wir auf das reagieren, was das Leben uns gibt.
Zitronen oder Erdbeeren, egal was.
Limonade oder Säuremittel, es ist uns überlassen, was wir daraus machen.

Und dann gibt es viele, ja eine Unzahl, vielleicht sogar eine Überzahl an Momenten, an denen ich nicht das Gefühl habe, alles im Griff zu haben.
In denen das Abwischen der Küchenarbeitsfläche mir nicht hilft, um mein Kontrollbedürfnis zu befriedigen.
Momente, die wir alle kennen, wenn wir uns den Regeln der Corona Pandemie ausgeliefert fühlen. Hilflos, machtlos, abwartend.
Abgestellt am Wartegleis, nur einen Koffer in der Hand, auf dem in fetten Buchstaben Corona Generation steht. Wir winken, schauen dem wegfahrenden Zug hinterher, der noch leicht am Horizont zu sehen ist, wir wippen ungeduldig auf den Fußballen – das Stehen fällt schwer, das Gehen noch mehr. Wir sind wie festgefroren -stillstehend- und sehen dennoch einen Zug nach dem nächsten an uns vorbeiziehen. Wir haben keine Kontrolle.
Können nur nichts tun, um etwas zu tun und fühlen uns dennoch unbefriedigt, ungeduldig, müde.

Ich denke immer wieder an den Sommer vor zwei Jahren.
An meine erste Liebe, an all die Erinnerungen, die Erlebnisse, die Sonnenuntergänge und Autofahrten mit offenem Dachfenster und lauter Musik. An Barabende und Clubbesuche, an die ersten Begegnungen mit den Menschen, mit denen ich mich die nächsten Jahre durch das Unileben schlage.
Denke an so viel Leben.
So viel Euphorie und auch Schmerz.
An Nervosität und Überwindung, an Unsicherheiten und Selbstvertrauen.
An flüchtige Begegnungen und beginnende Freundschaften.
An Unbeschwertheit und Schweres.

Ich denke immer wieder daran, dass ich immer die Einstellung hatte, dass ich etwas an dem ändern kann, mit dem ich unzufrieden oder unglücklich bin.
Ich kann mit der Person reden, die mich verletzt hat, kann es ihr offen ins Gesicht sagen und hoffen, dass sie mich versteht.
Ich kann mehr neue Menschen kennenlernen, wenn ich offen auf sie zugehe, wenn ich neue Sachen ausprobiere, mich allein Herausforderungen stelle und Verbündete finde.
Ich kann Männer daten, wenn ich Lust habe mich zu verlieben, kann jemanden ansprechen, der mir gefällt. Ich kann mir einen anderen Job suchen, der mehr zu meinem Studium und meinen Leidenschaften passt, kann schmerzhafte Erinnerungen an Trennungen und Abweisung durch Gute überschreiben, kann selbst bestimmen, wie ich Sachen sehe – ob ich daraus lerne, oder darin versinke, dass nur mir das passiert ist.
Ich kann diejenige unter meinen Freunden sein, die Treffen organisiert und muss so nicht darauf warten, dass mich jemand fragt.
Ich kann Initiative ergreifen.
Ich kann reisen, wenn ich mehr reisen möchte, kann Ausflüge planen und fremde Länder erkunden, kann einfach losgehen oder -fahren – alles was ich machen muss, ist –
es einfach zu machen.

Jetzt denke ich immer wieder daran, dass ich Vieles nicht mehr einfach so ändern kann, wenn ich damit unzufrieden bin. Dass nicht mehr alles in unserer Kontrolle steht, dass Abwarten und Machtlosigkeit die privilegierten Möglichkeiten ersetzt haben, mit denen wir aufgewachsen sind und ich mehr denn je in meinem Leben spüre, dass ich weniger in meinem eigenen Leben kontrollieren kann, als ich manchmal glaube.
Ich habe zwar Einfluss auf alles was ich konsumiere, aber nicht auf das, was mir geschieht, nicht auf das, was um mich herum passiert.
Und vielleicht kann ich keine Kontrolle über mein Leben haben, aber dafür über meinen Geist. Ich kann beeinflussen, was ich jeden Tag esse und trinke, wieviel ich mich bewege und welche Medien ich konsumiere.
Ich kann beeinflussen, welche Menschen in meinem Leben sind und wie ich mit ihnen und mir selbst umgehe.
Ich kann meine Gedanken kontrollieren oder es zumindest lernen und auch wenn ich nicht die Zukunft oder Vergangenheit beeinflussen kann, kann ich die Gegenwart beeinflussen. Den Moment, in dem ich lebe.

Es ist momentan schwer, laut zu sein, um sich selbst manchmal zu übertönen und es ist momentan genauso schwer, sich abzulenken, um nicht mehr dieselben Gedanken zu denken oder an Vergangenes erinnert zu werden.
Es ist momentan schwer, weg zu sein, um nicht mehr hier sein zu müssen.
Und dennoch liegt genau in diesem Kontrollverlust, in dieser Hilflosigkeit, in diesem Ausgeliefertsein, das viele von uns gerade vielleicht zum ersten Mal so richtig erleben, die Chance, sich bewusst zu werden, auf was wir alles trotzdem Einfluss haben.
Dass es gut ist, auch mal bei sich zu bleiben, auch wenn da ganz viel Schmerz ist, den man eigentlich übertönen will.
Es ist gut, sich in Stille zu üben, weil es heutzutage viel schwieriger ist, ruhig zu sein als laut. Es ist gut, hier zu sein, auch, wenn wir gerne flüchten würden, weil Probleme nicht gelöst werden, indem wir weglaufen oder die Augen verschließen.

Corona zwingt uns hinzusehen. Ganz genau mit uns zu sein und unseren Schwachstellen.
Drauf zu schauen und hinzusehen.
Warum geht es mir nicht gut? Was fehlt mir? Was fehlt mir nicht?
Was will ich verändern und kann es jetzt nicht?
Was möchte ich tun, das ich mich immer nicht getraut habe?
Wieviel Einfluss habe ich auf mein Leben und wie möchte ich es eigentlich leben? Warum denke ich immer wieder daran, wieso geht es mir nicht aus dem Kopf? Wieso vermisse ich das?
Warum kann ich nicht bei mir bleiben, wieso brauch ich immer Ablenkung, immer Lautstärke und Trubel, immer was zu tun, das mich beschäftigt?

Wieso ist still zu sein so viel schwieriger, als laut zu sein?

Corona zwingt uns hinzusehen, Kontrolle abzugeben, bei uns zu bleiben, still zu sein.

Wir stehen am Wartegleis,
den Koffer in der Hand, den Blick in die Ferne gerichtet und es ist ganz still um uns, nur das Grollen des herannahenden Zuges ist zu hören, der als nächstes an uns vorbeirauscht, ohne anzuhalten.
Generation Corona, aber mehr als das! steht auf dem Koffer, den wir in der einen Hand halten, die andere umklammert ein Glas mit einem Zitronen-Erdbeer-Smoothie.
Ein bisschen sauer, aber voll mit Vitamin C.  

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