Rennen

Wissen was wir wollen, sollen wir. Möglichst jetzt, möglichst sofort.
Uns verwirklichen, uns erfüllen, sollen wir.
Funktionieren sollen wir.
Die kleinen Mädels fangen schon viel zu früh damit an, auf Instagram irgendwelchen Fremden hinterher zu eifern, sich auf ihr Äußeres und ihre Wirkung nach draußen zu reduzieren. Nur das zählt, was man sieht, was greifbar, was post-bar ist.
Die älter gewordenen Mädchen befreien sich oft aus den Klammern dieser Welt – junge Frauen, die wie ich nicht damit aufgewachsen, sondern irgendwie so reingewachsen sind. Trotzdem sind die Vergleiche immer da, der Griff zum Handy, der unaufmerksame Blick des Gegenübers, der zum vibrierenden Telefon gleitet. Ich sehe es, ich merke es.
Wir sind da, aber nie ganz. Nicht mehr alles von uns.
Der nächste Gedanke gleitet schon durch den Feed, tippt Buchstaben in den WhatsApp Verlauf und ist irgendwo, aber nicht hier, nicht jetzt.
Bloß nichts verpassen, sollen wir. Up to date sein, sollen wir.
Wollen überall und nirgends sein. Überall ein bisschen, aber nirgends mehr so richtig. Weil wir endgültige Entscheidungen nicht gewohnt sind, darauf trainiert, immer flexibler und ungebundener zu sein. Wir müssen nicht mehr lange nachdenken, weil man WhatsApp Nachrichten ja löschen und Treffen ungezwungen absagen kann. Fremde, die auf Antwort warten, werden geghostet, weil man das ebenso macht – der Mumm fehlt, um ehrlich zu sein.

Wir sollen so viel sein und sind immer weniger.  

Sportlich sollen wir sein, uns gesund ernähren, aber auch mal was Gönnen, schließlich soll sich auch nicht alles um Ernährung drehen. Der Müll wird getrennt: Restmüll, gelber Sack, Biomüll und Pappe. Das Essen darf nicht schimmeln, möglichst nichts wegwerfen, das man noch verwerten kann. Plastik sollen wir meiden, nur alles, aber kein verfluchtes Plastik! Möglichst unverpackt soll alles sein und regional, aber zu teuer darf es auch nicht werden. Wie soll das gehen mit einem Aushilfen-Gehalt?
Naturkosmetik solls sein, nicht diese Mikroplastik- Scheiße. Wir sollen auf so viel achten, auf Inhalts- und Nährstoffe, auf Datenschutzrichtlinien, die Zahl auf unserm Konto, auf unsere Mitmenschen und uns selbst, auf die Politik und unsern Konsum.
Im Studium sollen wir alles im Griff haben, voll den Durchblick, sollen wissen, was wir wo, wie und wann abzugeben, anzumelden, einzureichen haben. Den Dozenten sollen wir hinterherlaufen und den eigenen Ansprüchen sowieso. Wir sollen Praktika machen, bei denen sich eh niemand um den kleinen neuen Praktikanten schert.
Studieren sollen wir. Und arbeiten. Das Geld muss schließlich auch irgendwoher kommen. Wir sollen 24/7 erreichbar sein, abrufbar, flexibel, wenn mal wieder diese oder jene E-Mail in den Posteingang flattert.
Wir sollen aktiv sein, die Welt retten, kein Fleisch essen oder nur wenig, demonstrieren und etwas verändern. Wir sollen uns politisch interessieren und auch sonst für alles offen sein. Wir sollen etwas Erreichen in unserm Leben, sollen später einen guten Job haben und -ja- gut verdienen, schließlich siehts mit unsrer Rente später nicht so rosig aus.
Verlieben sollen wir uns, Zeit haben für Dates und Beziehungen, uns austoben sollen wir – oder auch nicht, schließlich weiß man das bei Frauen immer nicht so. Am Ende gilt man noch als Schlampe und das will ja auch niemand.
Stark sollen wir sein und spontan, möglichst auf Achse und unternehmungslustig. Die Welt sehen, sollen wir, möglichst viel von ihr und möglichst billig dabei. Wir sollen unsere Zwanziger genießen, laut sein, aber nicht zu laut, Spaß haben, aber nicht zu viel. Die Vernunft darf ja auch nicht zu kurz kommen. Über Grün gehen, nicht über Rot, alten Leuten die Sitzplätze anbieten und den Müll aufheben, den andere haben fallen lassen.
Wir sollen Handypausen machen, unsern Social-Media Konsum im Griff haben, nicht abhängig werden und Netflix auch mal Netflix sein lassen.
Dabei sollen wir die ganze Zeit schön sein und gelassen, die Work-Life-Balance eben richtig im Gleichgewicht halten. Vielleicht auch mal Yoga zwischendurch oder ne Runde wegmeditieren.
Wir sollen die Familie regelmäßig sehen und Freunde – die von der Uni, von Arbeit vielleicht und dann noch welche von ganz früher. Und vielleicht wärs auch schön die Oma immer mal anzurufen. Einfach, weil man dankbar ist, das man sie hat.
Wir sind die, die später unsre Gesellschaft auf dem Rücken tragen. Die alles buckeln, was jetzt kaputt geht. Wir sollen uns nicht so haben, schließlich sind wir ja ohne Sorgen aufgewachsen. Sollen ruhig sein, nicht laut – warten, bis wir am Zug und so weit sind, um mitzureden.
Wir studieren Vollzeit und arbeiten nebenbei, haben Hobbies und Freunde und Familie, einen eigenen Haushalt und Baustellen darin, die immer noch nicht geflickt sind, weil Wohnraum nur noch Kapital bedeutet und nicht mehr Leben.
Wir stehen unter Druck. Werden zerrissen von den Ansprüchen dieser Welt und können uns immer schlechter entscheiden. Schon früher ist mir das aufgefallen. Es gibt so viel, so unendlich viele Möglichkeiten. So viel, das man machen kann und sollte, das wichtig ist und das wir uns erträumen.
Wir haben doch so viel Zeit und sind dennoch die, die meinen so wenig zu haben.
Und ich verstehe das Gefühl, denn manchmal fühlt es sich so an, als hätten wir wirklich zu wenig davon. Zeit.
Die ganze Welt schreit und niemand hört ihr zu. Es gibt so viel, das es lohnt, zu lernen. Und so viel zu tun. Wir sind die, die später unsre Gesellschaft auf dem Rücken tragen. Die alles buckeln, was jetzt kaputt geht.
Wir werden nicht erwähnt. Kommen nicht vor in den Medien und Sätzen von Leuten, die über uns entscheiden. Wir sind die, deren Unis als erstes geschlossen wurden und als Letztes wieder öffnen. Wir sind die, die die Zukunft sind und dennoch kein Gehör finden. Die als Erste gefeuert und als Letzte finanzielle Unterstützung vom Staat kriegen. 501 Euro müssen auf dem Konto sein, um als Student als „nicht bedürftig“ zu gelten. 501 Euro kostet oft allein die Miete in Berlin.

Wir sind jung. Haben noch so viel Zeit und so viel Leben vor uns. Zukunft.

Wir sollen hier sein, anpacken, helfen, die Füße stillhalten, laut, aber nicht zu laut sein. Wir haben´s ja so leicht, sind nicht mehr belastbar und weich geworden. Können nichts mehr aushalten, weil uns alles abgenommen wird. So ist es aber nicht, so fühlt es sich nicht an.
Wir sollen alles richtig machen, ein Schritt vor den anderen setzen.
Wir sollen rennen, denn alles dreht sich immer schneller, nur wir – wir werden immer langsamer – und das – schon viel zu früh.


„In diesem Alter sollte man noch nicht so müde sein.“

(1) Kommentar

  1. Laura sagt:

    Wow, in diesen Zeilen hast du für mich so ziemlich genau das auf den Punkt gebracht, was mich in ruhigen Minuten umtreibt. Sind wir genug? Sind wir genug für Klima, Politik und Co.? Ich weiß es nicht und du offensichtlich auch nicht, aber was du weißt, ist dass es diese unglaubliche innere Zerrissenheit gibt.
    Wirklich toller Text und großes, fettes Dankeschön fürs Schreiben! 🙂

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert