mir ist kalt.

Der Himmel ist grau. Nein, nicht grau: weiß. Ein grelles, stechendes Weiß, das durchzogen wird von gräulichen Schlieren, eine Wolkendecke, die den Himmel verdeckt, die das Blau vor uns verbirgt, die Sonne und ihre Wärme abschirmt, nichts durchlässt außer kleinen weißen Flocken, Wassertropfen und Wind.
Mir ist kalt. Mir ist schon lange kalt und ich habe das Gefühl, nie richtig warm zu werden, so als würde die Kälte von mir Besitz ergreifen, sich langsam und genüsslich meine Fingerspitzen und Zehen hinaufarbeiten und als würde sie nicht lockerlassen, nicht verschwinden – egal wie warm es in der Wohnung ist und mit wie vielen Decken ich mich in meinem Bett vergrabe. Mir ist kalt. Alles ist so kalt.
Der Himmel ist weiß und hell und irgendwie auch nicht. Es ist dunkel, obwohl Tag ist und die Kälte hat etwas Erfrischendes, etwas Reinigendes, aber auch irgendwie etwas Brutales an sich, wenn ich nach draußen gehe und durch die Straßen und Bäume streife, Menschen beobachte, wie sie ihren warmen Häusern und Wohnungen entfliehen, um sich ein Stück der Freiheit zurückzuerobern, die wir denken, verloren zu haben.
Sonntags wirken die Straßen wie ausgestorben, sonntags ist es ruhig auf dem Asphalt und vor den Ladentüren, sonntags werden dafür die Parks und Wälder von Menschen überrannt, selbst jetzt wo der Strich des Thermometers immer weiter nach unten rutscht.
Wir suchen Abwechslung, wir suchen Unbekanntes zwischen unseren bekannten Straßen, suchen Wärme und Nähe und sei es nur ein Lächeln im Vorbeigehen, die Hände in den Taschen, den Blick ins Leere gerichtet. Sei es nur ein freundliches Wort vom Supermarktkassierer oder dem Dönermann, der unsere Bestellung mittlerweile kennt und dem wir einen schönen Tag wünschen. Wir suchen nach unserer Motivation, nach Zuversicht, die wir zurzeit so oft missen. Wir suchen nach Abenteuern, nach Input, die uns gerade versagt sind, suchen Erlebnisse und Geschichten, die wir teilen und erzählen können, Momente, die uns verbinden, die wir in guter Erinnerung behalten.
Diese Zeit ist die Zeit der Introvertierten und Flexiblen. Diese Zeit ist nichts für die Extrovertierten und die Macher, nicht für die, die sonst immer ganz vorne und ganz laut und gesellig sind, nicht für die, die Energie aus Erlebnissen und Plänen, aus Spontanität und Unternehmungen ziehen, sondern für die, die ihre Kraft aus Ruhe und Alleinsein schöpfen.
Diese Zeit ist für die Flexiblen, die mit ständig wechselnden Regelungen und Unvorhersehbarem, mit auf den Kopf gestellten Tagesplänen durch diese oder jene E-Mail, mit der Unverbindlichkeit der digitalen Welt am besten umgehen können. Diese Zeit ist für die, die im Jetzt leben und nicht ans Zukünftige denken, die ihre Kraft nicht aus Urlaubsplänen oder gemeinsamen Events mit Freunden und Familie, sondern aus dem augenblicklichen Moment ziehen.

Mir ist kalt. Mir ist so unendlich kalt manchmal, mir fehlt das Gefühl nach Hause zu kommen, sich nach einem langen Tag auf Zuhause zu freuen, freudig über die Türschwelle zu treten, all die Vertrautheit, den Geruch, die Geborgenheit in sich aufzusaugen und sich einfach fallenzulassen an diesem Ort, den man für sich geschaffen hat und der da ist, wenn alles, all der Stress und der Tag von einem abfallen soll. Ich vermisse es nach Hause zu kommen. Mir ist so kalt, Gänsehaut kriecht über meinen Körper, überzieht ihn wie eine zweite Schicht, eine zweite Haut. Die Kälte ist immer da, selbst wenn in der Badewanne das heiße Wasser meinen Körper umschließt, selbst dann, wenn ich mit dem Kopf untertauche, die Augen schließe und meinem eigenen Herzschlag lausche, der durch all das Wasser so laut erscheint. Selbst dann ist die Kälte präsent und löst so etwas wie Gleichgültigkeit aus, so als wäre ich schon gewöhnt, dass sie da ist und als würde ich sie gar nicht mehr richtig wahrnehmen, weil sie irgendwie zu mir gehört. Ich spüre die Kälte, wie sie langsam meine Fingerspitzen und Zehen nach oben kriecht, wie sie Besitz von mir ergreift, wie der weiße Himmel in meinen Augen sticht und jedes Geräusch viel zu laut erscheint und in meinen Ohren brennt.
Ich bin das Sitzen müde, möchte aufstehen und rennen, so lange laufen, bis meine Lunge versagt, möchte springen und hüpfen, schreien und brüllen aus vollem Halse, möchte all den Frust und all die Ungewissheit, all das was so unsicher und unsichtbar unter der Oberfläche brodelt, loswerden, möchte nicht mehr hören, das es nun mal so ist wie es ist, möchte einfach nur auf etwas einschlagen, all das was da in mir ist, rauslassen und dann zusammensinken, erschöpft ins heiße Wasser der Wanne und danach in mein Bett gleiten. Ich möchte die Menschen, die ich liebe um mich haben, möchte ihre Nähe spüren, sie umarmen, bis ich sie fast zerquetsche, nur um sicher sein zu können, dass sie immer noch da sind, auch wenn sie manchmal so fern erscheinen. Ich möchte weinen, einfach so, möchte alles aus mir rausspülen, auch „wenn es anderen gerade noch so viel schlechter geht“, möchte einfach heulen, bis da nichts mehr in mir ist, außer diesem befreienden Gefühl alles rausgelassen zu haben.
Ich möchte nicht mehr vernünftig sein. Möchte mich nicht mehr selbst motivieren, bin es müde, mich zusammenzureißen, das zu tun, was richtig ist und mir gut tut, ich möchte einfach etwas Falsches tun, rebellieren gegen diese Eintönigkeit, gegen diese Gleichgültigkeit in mir und diese Kälte, die da tief in mir schlummert. Es fühlt sich an, als wäre ich schon so alt. Als lägen meine besten Jahre schon hinter mir und als würde da nichts mehr kommen, als das, was jetzt ist.
Ich habe das Gefühl, dass uns unsere Zukunft gestohlen wurde. Dass jemand all unsere Träume und Ziele, unser Fernweh und unseren jugendlichen Hunger nach Erlebnissen und Erfahrungen eingesteckt und mitgenommen, sie einfach aus unseren Herzen und Köpfen gerissen hat, ohne Rücksicht auf Verluste. Und es fühlt sich an als würde da nun ein Loch in mir klaffen. Wir sind verwundet. Wir bluten, auch, wenn wir es nicht merken. Ziehen diese Spur hinter uns her, während wir trotzdem weitergehen. Und es geht uns allen so. Wir funktionieren, weil alles andere nicht vernünftig wäre, sinnlos, weil es ja eh nichts ändern würde. Wir akzeptieren, passen uns an, machen weiter: funktionieren.
Fühlen uns monoton und gleichgültig, haben erstmal abgeschlossen mit so manchem Traum oder Vorhaben, haben es ganz weit weggeschoben, spüren nur dieses Loch in uns, dessen Kälte sich ausbreitet und all die Wärme in uns verdrängt. Als würden dessen Eiskristalle langsam über unsere Haut kriechen, sich festsetzen, schön, aber dennoch gefährlich aussehen, als würden sie eine zweite Haut bilden, die unser Gesicht hindurchschimmern, aber keine Wärme hinauslassen würden.
Es fühlt sich an, als wäre ich alt.
Habe das Gefühl, unsere besten Jahre würden uns gestohlen werden, geraubt, geklaut und weggenommen, als wäre da ein dunkles leeres Loch in uns allen, als würden wir einfach weitermachen, weil es ja nichts hilft zu schreien, zu rennen, zu toben, zu weinen und um sich zu schlagen. Weil es nichts bringt. Weil man mehr kaputtmacht, als repariert, weil das Loch nicht verschwinden wird. Weil da nichts ist, was wir tun können, außer funktionieren. Außer Nähe und Wärme, Abenteuer und Erlebnisse, Neues in Bekanntem und Vertrautheit auf Bildschirmen oder in Straßen und Wäldern zu suchen. Weil ja nichts bleibt, außer das -und, weil wir ja trotzdem immer noch mehr haben, als andere.
Mir ist kalt. Schon lange ist mir kalt und mir wird nicht mehr richtig warm. Doch immer, wenn ich dann zu meinem Handy greife, immer, wenn ich ihre oder eure Nummern wähle, wenn ich eure Stimmen und unser Lachen höre, wenn ich eure Umarmungen spüre, wenn ich mit ihr auf dem Boden unserer Wohnung sitze und Ewigkeiten rede, wird mir wieder ein kleines bisschen warm.

(4) Kommentare

  1. Jojo sagt:

    Wow schöner Text. Das fängt ziemlich gut das Gefühl ein, was wir wahrscheinlich alle haben…

    1. Charly sagt:

      Danke dir für deinen Kommentar! :*
      Schön, dass du dich in dem Gefühl wiederfindest, das freut mich.

  2. Kai sagt:

    Introvertiertheit und Extrovertiertheit, 2 Eigenschaften die ihre Zeit brauchen, aber doch nicht gegensätzlich sind. Berlin ist die perfekte Metapher dafür. Alt-Köpenick und Alexanderplatz, Frohnau und Zoo, jeder Ort kann perfekt sein, wenn er den richtigen Zeitpunkt erwischt, und trotz aller Unterschiedlichkeit ist es ein und dieselbe Stadt. Die Pandemie ist ein Bruch in unserem Lebensstil und aus diesem Brüchen lerne ich immer, dass es so viele Arten gibt, wie man sein Leben führen kann und jede einzelne ist bereichernd. Stereotype wie Extrovertierte gibt es doch eigentlich nicht. Warum stellst du dich unter Kategorien wie „Extrovertiert“ oder „Sportmensch“? Jeder einzelne hat zwar Eigenschaften, aber er ist nicht die Eigenschaft. Deine Texte strotzen vor Kraft in den Momenten, wo du deine Selbstreflexion rausarbeitest und nicht in den Momenten, wo du dich Stereotypen oder Mustern ergibst. Deine Texte können so wunderbar sein und ich es gibt wunderbare Stellen auch in diesem Text. Und doch wird alles monoton, wenn sich die eine Metapher an die nächste reiht. Das ganze lenkt von deinem persönlichen Stil ab, den du noch mehr rausarbeiten musst. Bitte nehm mir diese Worte nicht übel, ich mag deine Texte und bereue es auch nicht, diesen gelesen zu haben. Ich sehe nur so viel ungenutztes Potential.

    Liebe Grüße,
    Kai

    1. Charly sagt:

      Erst einmal vielen Dank für deinen Kommentar, Kai!
      Ich finde es jedes Mal interessant zu lesen, was du zu meinen Texten denkst.
      Ich gebe dir absolut recht, Stereotype oder Eigenschaften wie extro- oder introvertiert reichen absolut nicht aus, um einen Menschen zu beschreiben oder irgendwie zu definieren, mal abgesehen davon, dass man das wahrscheinlich sowieso nicht wirklich kann.
      Ich denke auch, dass jeder Mensch beide solcher Eigenschaften in sich trägt, und nur eine Neigung zu einer dieser hat. Trotzdem spüre ich, dass es einigen Menschen leichter fällt als anderen zurzeit so wenig „Trubel“ und Menschen um sich zu haben und viel allein zu sein. ich definiere mich nicht nur als „Sportmensch“ oder „Extrovertiert“, ich denke nur das wichtige Eigenschaften unserer Persönlichkeit Einiges über uns und vielleicht auch unser Denken oder Leben aussagen können.
      Menschen denken nun mal immer in Schubladen, natürlich muss man diese immer wieder öffnen und umsortieren, offen sein, aber im Großen und Ganzen sind diese Begriffe und Eigenschaften doch etwas Greifbares, etwas „Sichtbares“ und plastischer als würde ich meine ganze Persönlichkeit versuchen zu beschreiben. Ich verstehe deine Kritik und glaube auch zu verstehen, was du mit den Metaphern meinst, allerdings fehlt mir etwas der Ansatz, was wirklich besser funktinieren würde. Ich habe mir was das Schreiben angeht alles autodidaktisch beigebracht und selbst angelesen etc. und die meisten meiner Texte entstehen aus dem Gefühl heraus, intuitiv und ohne groß nachzudenken.
      Es sind Momentaufnahmen, Schnipsel aus meiner Gefühlswelt, wenn man es so sagen möchte.
      Ich finde es schön zu hören, dass du ungenutztes Potenzial in meinen Texten erkennst, es ist immer schön, wenn noch Luft nach oben ist 😉

      Liebe Grüße
      Charly

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