„Hörst du mir überhaupt zu?“, fragt er und sieht mich ungeduldig an. Seine Lippen sind zusammengekniffen, alles Blut ist aus ihnen gewichen, weil er seinen Kiefer so fest zusammenpresst. Wut blitzt in seinen Augen auf, aber auch Enttäuschung. Ich habe ihn enttäuscht. Schon wieder.
Plötzlich schnippt er vor meinem Gesicht und ich schrecke hoch. Langsam schüttle ich den Kopf. „Wie bitte?“ Er schnaubt nur und wendet sich von mir ab, die Augenbrauen ärgerlich zusammengezogen. „Geh einfach. Ich bin es leid, mir deine Entschuldigungen anzuhören. Geh!“
Ich stehe wie erstarrt neben ihm, sehe ihn an, betrachte all das Gewohnte und all das Fremde. Die Beugung seines Nackens und der Schwung seines Rückens sind mir so vertraut wie die Linien auf seinen Handinnenflächen, doch nun erkenne ich auch Dinge, die vorher nie dagewesen sind. Die Anspannung in seinen Muskeln, die seine Schultern verkrampfen lässt und der Zorn in jedem seiner Worte, die mich wie Peitschenhiebe genau ins Herz treffen.
„Bist du taub?! Verpiss dich endlich!“, schreit er nun und sein Gesicht färbt sich dunkelrot, eine Ader pulsiert auf seiner Stirn und unterstreicht die Kraft, die er aufwendet, um sich vor einem totalen Ausbruch zurückzuhalten. Erschrocken fahre ich zusammen, suche mit zittrigen Fingern meine Sachen und werfe sie in meinen Rucksack. Ich setze mir gerade beide Riemen auf die Schultern, als mich meine Schuhe gegen den Brustkorb treffen. Reflexartig fange ich sie auf. Bei seinem Anblick schnürt sich meine Kehle zusammen und ein unerträglicher Druck baut sich in meinem Hals auf. Es ist, als müssten all die Worte, die mir auf den Lippen brennen, herausbrechen, aber könnten die Barriere in meinem Hals nicht überwinden, die sich mit jeder Sekunde fester zusammenzieht. Wie eine Schlinge um meinen Hals. Wut, Trauer und Verzweiflung brodeln in meinem Magen, treiben mir Hitze in die Wangen. Mit fahrigen Bewegungen streife ich meine Schuhe über und reiße meine Jacke von dem Hacken neben der Tür. „Mach endlich. Ich ertrage dein Gesicht keine Sekunde länger. Wie konntest du nur? Was bist du eigentlich für ein Mensch?“ Seine Worte brennen in meinen Ohren, stechen in mein Inneres und reißen Wunden auf, die nie ganz verheilt sind. Stumme Schluchzer quetschen sich an der Schlinge um meinen Hals vorbei und dringen mir über die Lippen, als ich endlich die Türklinke herunterdrücke und mit hastigen Schritten aus der Wohnung renne. Ich stolpere das Treppenhaus hinunter ins Freie und spüre, wie meine Schritte immer schneller, immer fordernder werden. Es ist, als würde ich all der angestauten Energie Luft machen und mit jedem Schritt den Zorn aus meinem Herzen in die asphaltierte Straße pressen. Ich weiß nicht, wie lange ich renne, bis ich schwer atmend am Waldrand ankomme, die Hände auf die Oberschenkel gestützt. Verpiss dich endlich, dröhnt seine verletzte Stimme in meinem Kopf. Tränen tropfen von meinem Gesicht in den Sand zu meinen Füßen, hinterlassen dunkle Flecken in der hellen Erde. Überall wo ich hingehe, verursache ich Schmerz und Wut. Überall wo ich hingehe, hinterlasse ich Dunkelheit und Schwärze.
Nach einigen kräftigen Atemzügen wische ich mir mit dem Handrücken über die Augen und laufe in den Wald hinein, folge dem schmalen Streifen Weg, der sich wie eine Schlange durch das Grün der Natur windet. Es dauert eine Weile, bis ich mich beruhigt habe und mich der Wald komplett verschluckt hat. Ich ertrage dein Gesicht keine Sekunde länger, seine Stimme verfolgt mich, bohrt mit jedem Wort ein weiteres kläffendes Loch in meine Brust. Was bist du eigentlich für ein Mensch? Ich schluchze auf und versuche den Schmerz in meinem Innern zurückzuhalten, bevor er mich in seiner allumfassenden Kraft vollends verschlingt. Wie kann Sprache nur so schmerzhaft sein? Wie können Worte nur so sehr weh tun, dass man wünscht, man wäre taub? Taumelnd setze ich meinen Weg fort, blinzle die Tränen aus meinen Augen und konzentriere mich auf meine Umwelt. Betrachte die dunklen Stämme der Bäume, ihre erhabenen Kronen voll von saftigen Blättern und ihre grazilen Äste, die sich in einer Umarmung ineinanderschlingen. Ich atme tief durch, sauge die kühle, mit dem Duft von Erde und Moos erfüllte Luft in meine schmerzenden Lungen. Vögel zwitschern neben mir, die Fröhlichkeit in ihren Melodien scheint mich zuallererst zu verspotten, als würden sie ihren Schalk mit mir treiben, doch nach und nach erfüllt sie mich mit Leichtigkeit, schließt langsam die Löcher, die seine Worte in meine Brust gerissen haben. Ich schließe die Augen und lasse mich treiben. Lausche dem wohligen Rauschen der Blätter, dem Knacken von Ästen und dem Summen von Insekten, die an mir vorbeizischen. Sonne wärmt meine Haut, prickelt auf meinen Armen, auf denen sich seit dem Besuch in seiner Wohnung eine Gänsehaut ausgebreitet hatte. Seine Stimme in meinem Kopf wird leiser, verblasst immer mehr und wird von der Symphonie der Natur verdrängt, die den ganzen Raum in meinen Gedanken einnimmt. Sprache kann so grauenhaft sein. Kann alles zerstören, was tausende zaghafte Momente erschaffen haben. Aber hier in der Natur mit all ihren Geräuschen, die sich in Einklang bewegen, die sich ergänzen und zusammen eine Symphonie voll von Zauber und Magie erschaffen, erkenne ich die wahre Schönheit von Sprache. Sprache ist nicht nur das gesprochene Wort. Sie findet sich nicht nur in all den Sprachen dieser Welt wieder. Sprache bedeutet Kommunikation und Verbundenheit und in genau diesem Moment der Stille und des Einklangs weiß ich, dass auch die Natur ihre eigene Sprache besitzt. Meine Fingerspitzen streifen über feuchte Blätter, malen Kreise auf die raue Haut der Stämme. Worte haben mich schon so oft verletzt, mich in ein Loch aus Schmerz und Hass gerissen, weil sie unsere hässlichsten Emotionen in etwas Greifbares, etwas Wirkliches verpacken. Doch was ist mit den schönen Worten? Wie oft schon hat er mir gesagt, dass er mich liebt? Wie oft schon haben wir über die Zukunft geredet, voller Freude und Erwartungen? Wie oft schon hat er gesagt, dass er mich immer beschützen würde?
Damals als er zum ersten Mal diese Worte ausgesprochen hat, bin ich innerlich verglüht. Ich lag in seinen Armen, den Kopf auf seiner Brust und lauschte dem stetigen Klopfen seines Herzens. Ich erinnere mich an Finger, die sanft durch mein Haar strichen und den Linien meiner Wirbelsäule folgten. Und dann kamen sie über seine Lippen. Die drei Worte, die mich schweben, die alles unwichtig erscheinen ließen. Sie waren wie Musik in meinen Ohren. Genau wie jetzt, hier, umgeben von all der Schönheit der Natur. Hier klingen sie in mir nach, erfüllen mich mit demselben warmen Glücksgefühl, das ich jedes Mal empfunden habe, wenn er sie ausgesprochen und nur zu mir, zu mir allein, gesagt hat. Sprache hat diese Macht, etwas zu erschaffen, das einzigartig und wunderschön ist. Sie kann mit wenigen Worten Dinge wahr werden und Träume in Erfüllung gehen lassen. Und doch besitzt sie auch die Macht, zu zerstören, Menschen auseinanderzureißen und Löcher in Herzen zu schlagen. Worte sind wie die Geräusche der Natur, wie das Zwitschern der Vögel oder das Rauschen des Windes. Mal sind sie fröhlich, hell und bunt und manchmal erklingen sie dumpf und dunkel, symbolisieren das Negative in unseren Köpfen, das wir alle Tag für Tag in uns bekämpfen und niederschlagen müssen.
Ich drehe mich um mich selbst, wandere mit den Augen über jeden Winkel des Waldes, entdecke Pilze und Ameisen, die sich ihren schweren Weg an einem Stamm nach oben kämpfen. Eine Amsel huscht unter einem Busch entlang, erhebt sich mit wenigen Flügelschlägen zwischen den Baumkronen in den blauen weiten Himmel.
Und plötzlich wird mir etwas klar. Seine Worte schwirren in meinem Kopf umher, schlitzen mich von innen heraus auf. Dabei sind es doch genau seine Worte, seine Stimme, die mich damals geheilt haben. Er war es, der an mich geglaubt, der mich geliebt hat. Ich spüre, wie sich meine Beine in Bewegung setzen, wie sie an Geschwindigkeit zulegen und über den dunklen Boden hinwegfegen.
In der Natur gibt es dunkle und helle Töne, Fröhliches und Raues. Die Natur spricht ihre eigene Sprache, die nur sie selbst versteht. Sprache kann erschaffen und zerstören. Worte können heilen und verletzen. Es gibt dunkle und helle Töne, all das ist natürlich. Es muss nur im Gleichgewicht stehen, sich im Einklang befinden. Und die Frage ist, wie wir Sprache einsetzen, wie wir uns entscheiden.
Ob wir erschaffen oder zerstören wollen.
Als ich schwer atmend vor seiner Wohnungstür stehe, die Hand erhoben und mein wild schlagendes Herz in der Brust spüre, weiß ich, dass ich mich entschieden habe, zu erschaffen.