loslaufen

01.09.2021: Tag eins

Zuallererst war da diese Aufregung in mir, die ich in diesem Ausmaß seit der achten Klasse vor diversen Klausuren nicht mehr gespürt hatte. Mir war schlecht. Zum Kotzen schlecht könnte man sagen. Es fühlte sich an, als würde mein Magen mit einem dicken Gummiband zugeschnürt werden, als würde er sich zusammenziehen zu einem kleinen kompakten Paket. Ich fand keine Ruhe, konnte die zwei Nächte vor der Abreise nicht schlafen, was vielleicht auch anderen emotional aufwühlenden Umständen geschuldet war. Dauerhaft hatte ich das Gefühl, etwas zu vergessen, ich saß -sprichwörtlich- auf heißen Kohlen. Und dann stand ich am Hauptbahnhof.
Schon als ich mich in die S-Bahn gesetzt hatte, wurde ich innerlich ruhiger. Das Schlechtsein verwandelte sich in eine glühende Euphorie, eine Vorfreude, die in meiner Brust brannte, mich innerlich geradezu entzündete. Ich lächelte in meine Maske hinein, fragte mich, was die Menschen um mich denken von der jungen Frau, die dort in Wanderschuhen und mit einem großen Backpackerrucksack zwischen den Beinen sitzt. Angekommen am Hauptbahnhof wartete ich am Gleis 1, beobachtete das Treiben um mich herum, die Familien und Paare, die Schulklasse, die nur aus asiatischen Kindern bestand, die Mutter, die ihrer Tochter zum Zeitvertreib das Handy gab, um mit lauter Musik mitten auf dem Bahnsteig ein Tik-Tok Tanzvideo zu drehen. Ich spürte tiefen Mut und Zufriedenheit in mir. Nun sollte es endlich losgehen. Plötzlich lief ein junger großer Mann an mir vorbei, Kopfhörer auf den Ohren und den Griff eines Koffers in der Hand. Kenn ich ihn nicht? Ich sah ihm nach, tippte eine Nachricht an ihn in mein Handy („Bist du gerade zufällig am Hauptbahnhof auf Gleis 1?“) und wenige Augenblicke später saßen wir zusammen im Zug Richtung München, ich auf dem Boden im Schneidersitz, er neben einer netten Frau. Ich auf dem Weg in den Urlaub, er auf dem Weg in die Heimat. Dieser Zufall schien fast schon zu absurd um wahr zu sein, schließlich hatten wir uns schon einmal genau hier am Hauptbahnhof zufällig gesehen, standen plötzlich nebeneinander, waren zur selben Zeit am selben Ort und hatten dann den Heimweg zusammen verbracht. Die Zugfahrt war angenehm, vielleicht, weil ich die meiste Zeit Gesellschaft hatte, vielleicht aber auch, weil ich Zugfahrten einfach mag. Ich mag es unterwegs zu sein, verliere mich gerne in der vorbeiziehenden Landschaft und stelle mir vor, wohin die Menschen in diesem Waggon wohl unterwegs sind und welche Leben sie außerhalb dieser Bahn wohl führen.
Mein erster Abend war noch geprägt von dem Gefühl allein zu sein und den Zweifeln, ob dies die richtige Entscheidung war. Auf dem Zeltplatz, auf dem ich schlief, kam ich an unzähligen Wohnmobilen vorbei, bevor ich auf die komplett leere Zeltwiese bog. Es war fast schon auf eine ironische Weise komisch. Ich, die zum ersten Mal allein einen Urlaub antrat, war das einzige Zelt auf diesem Platz, wo ich doch spekuliert hatte, gerade auf Zeltplätzen Menschen kennenzulernen.

Ich schlug also mein Ultralight-Zelt auf, hatte die ganze Wiese für mich, spazierte abends zum nahgelegenen See, um in dem Sonnenuntergangslicht zu baden und die von dort kommende Live-Musik aufzusaugen.
Die erste Nacht war kalt. Die Feuchtigkeit des Sees kroch in mein Zelt, hängte sich als Tropfen an die Zeltdecke und schlüpfte zu mir in meinen Schlafsack. Als sich die Tropfen irgendwann lösten und winzige Pfützen in den Ecken meines Zelts hinterließen, gestand ich mir ein, dass meine Mom recht gehabt hatte und einwandige Zelte -egal welcher Qualität- einfach nichts taugen. Morgens hing ein dicker Nebelschleier vor meiner Zelttür und ich hatte immer noch das Gefühl in mir, nicht richtig ankommen zu können, nicht wirklich im Moment zu sein. Mich immer noch zu fragen, ob das alles zu zweit nicht lustiger gewesen wäre. Ich fühlte mich nicht präsent und konnte nicht genießen, wo ich gerade war und was ich gerade tat. Es war eher wie eine Pflicht, wie ein Programm, das ich abrief und fühlte sich an wie ein kalter Sprung ins Wasser – nass, kalt und plötzlich.
Während ich meinen Tee in den ersten Sonnenstrahlen trank und mein Frühstück über dem Gaskocher zubereitete, rief ich meine Mom an, die genau klang wie die Stimme in meinem Kopf, die sagte: Lauf einfach los.
Und das tat ich dann auch.

(2) Kommentare

  1. David sagt:

    wirklich , schön geschrieben .

    Ich möchte dieses Jahr auch gerne das erste mal alleine verreisen und bin gespannt auf deine Fortsetzung .

    Liebe Grüße

    1. Charly sagt:

      Danke dir! Der nächste Teil folgt bald 😀
      Mach das! Es ist die Erfahrung auf jeden Fall wert!
      Liebe Grüße
      Charly

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