meine kleinen 1,65 m

Letzte Woche war ich mal wieder bei einem verlassenen Haus, rein zufällig, es hat sich so ergeben. Plötzlich war es da, einfach so. Das Loch im Zaun war geradezu eine schriftliche Einladung. Da war eine Leiter an einer der Hauswände, die aufs Dach führte. Ich schlang meine Finger um die Sprossen, bereit für den Aufstieg, wollte hoch, rauf aufs Dach. Oben sein. Aber jemand hat mich abgehalten. Hat gefragt, warum ich das machen will, wenn es mir doch gar nichts gibt, weil das Dach zu niedrig ist, um Adrenalin in mir zu wecken und die Umgebung zu uninteressant, um wegen des Ausblicks nach oben zu wollen. Ich konnte nichts antworten, nichts Konkretes, ich wollte eben einfach hoch. Nach oben. Neugier. Jetzt weiß ich, was es ist, das mich dazu getrieben hat, das mich oft dazu treibt, irgendwo rauf zu klettern, wo ich rauf komme. Perspektivwechsel.

Jetzt, wo es wieder langsam wärmer wird und die Sonne ab und zu die ersten Frühlingsgefühle in mir weckt, zieht es mich wieder nach draußen. Es ist wie eine innere Macht, eine Kraft, gegen die ich machtlos bin, die in mir so lange tobt, bis ich mich wie von selbst anziehe, einen Hoodie überwerfe, der nach Waschmittel duftet und mich auf mein Fahrrad schwinge. Das passiert meistens, wenn die letzten Sonnenstrahlen den Himmel in dieses dämmrige Grau-Rosa tauchen. Wenn die Wolken wie schmale Schlieren über meinem Kopf hinwegziehen und die Vögel um mich herum zwitschern. Und ich atme ein und ich atme aus. Die Luft ist noch kühl und frisch und schmeckt nach Leben. Dann breite ich die Arme zu beiden Seiten aus und fahre mitten auf der Straße, die hier draußen eh meistens leer ist, lege den Kopf in den Nacken und sehe in den Himmel. Es ist ein schönes Gefühl. Und auch wenn ich mich manchmal in meinem kleinen Heimatort wie eine Gefangene fühle, wenn ich abends durch die stillen Straßen laufe, während ich eigentlich in Berlin das Nachtleben erkunden könnte oder dort an jeder Ecke etwas Neues auf mich wartet, liebe ich meine Heimat. Und trotzdem ich hier aufgewachsen bin, entdecke ich oft noch etwas Neues, wenn ich rausgehe, auch wenn es nicht so aufregend ist wie es vielleicht in einem Undergroundclub Berlins wäre.

Mein Fahrrad lasse ich an einem Straßenschild zurück und schlage meinen Weg quer übers Feld ein, die Kamera hängt über meinem Rücken, mein Schlüsselbund fühle ich in meiner Jackentasche. Mein Handy liegt zuhause, das Akku war sowieso fast leer. Und ich atme ein und ich atme aus. Der Boden ist matschig und aufgeweicht vom Regen, ich laufe auf eine Baumgruppe zu, zwischen der sich tümpelartige Teiche gebildet haben. Hinter einem hohen Busch entdecke ich einen Ausguck, den ich erst für den eines Försters halte, aber als ich näherkomme, sehe ich, dass er auf einem alten rostigen Fahrgestell gebaut ist. Wie cool. Ich schaue hoch. Mir fällt die Situation von letzter Woche wieder ein. Meine Hände auf den Sprossen dieser Leiter, diese Hand, wie sie mich zurückzieht. Ich klettere nach oben und setze mich auf die kleine Holzbank, die in der Hütte angebracht ist. Von hier hat man einen richtig guten Blick auf den Sonnenuntergang, der heute nicht ganz so atemberaubend ist. Trotzdem fühlt sich alles gerade einfach friedlich an. Der Himmel, der sich stetig verändert. Die Bäume, das Zwitschern der Vögel, der leichte Wind, das Rascheln des hohen Grases, das entfernte Rauschen der Autos, das ich ausblende. Natur. Hier bin ich richtig. Hier bilden sich die Worte in meinem Kopf, hier fällt mir alles ein, was ich wissen muss. Hier ergibt alles Sinn und manche Gedanken, die sonst so durcheinander und laut in meinem Kopf wirken, schweigen für einen Moment. Hier fühle ich mich frei. Hier fühlt sich alles richtig an. Hier ist mein Platz.

Und ich weiß jetzt, wieso ich so gerne nach oben möchte. Perspektivwechsel. Von oben sieht alles irgendwie nochmal anders aus. Ich kann weiter sehen, die Bäume versperren mir nicht so weit den Blick und es fühlt sich an, als wäre ich woanders, obwohl ich immer noch am selben Ort bin. Die Dinge unten wirken plötzlich viel kleiner, unwichtiger. Hier oben fühlt sich die Welt unbedeutender an, es wirkt auf mich, als wäre gerade nur dieser Moment, dieser Sonnenuntergang wichtig. Als hätte nur das Bedeutung. Ich atme ein, ich atme aus. Wir bilden uns oft so schnell eine Meinung, hören, sehen, riechen etwas und glauben zu wissen, um was es sich handelt. Wir verstricken uns manchmal in unseren eigenen Glaubenssätzen, die sich nicht ändern, wenn wir sie nicht hinterfragen, wenn wir uns selbst nicht herausfordern, uns nicht trauen einen Perspektivwechsel einzugehen. Neugierig auf Neues zu sein, Angst zu überwinden, auszuprobieren mit der Gefahr auch mal hinzufallen und sich das Knie aufzuschürfen. Wir fahren uns manchmal fest in unseren Gewohnheiten, in unseren Eigenschaften, die wir selbst in der Hand haben, glauben zu wissen, was richtig und falsch ist und erlauben uns manchmal sogar über andere und ihr Leben zu urteilen, denken zu wissen, wie der- oder diejenige glücklicher wäre. Aber so ist es nicht. Wir sind so, man kann das nicht einfach abstellen. Aber was hilft, ist ein Perspektivwechsel, Neues auszuprobieren, sich dann eine Meinung zu bilden und diese jedoch stetig zu verändern, anzupassen, zu optimieren, fremde Menschen kennenlernen, offen sein für Ungewohntes und Unbequemes, weil es meistens die unbequemen Sachen sind, die uns irgendwann die meiste Freude bringen und am Besten für uns sind. Sie sind nur unbequem, weil sie nicht in unserer Komfortzone liegen. Perspektivwechsel. Auch mal nach oben klettern, die Welt aus einer anderen Höhe betrachten als von meinen durchschnittlichen 1,65m. Wie schön ist das. Wie wichtig ist das. Und hier oben, hier oben kann ich über die Baumwipfel blicken, zumindest über die der ersten Baumreihe. Ich kann mehr vom Sonnenuntergang sehen und ihn in mich aufsaugen. Und ich habe keine Höhenangst, keine Angst zu fallen, zumindest nicht in dieser Höhe. Meine Neugier ist viel zu groß, als dass ich mich von Angst abhalten lassen würde und solange meine Neugier größer als meine Angst ist, kann ich eigentlich nur zufrieden sein, denn wie langweilig ist das Leben ohne neugierig auf Sachen zu sein?

Und während ich hier oben sitze, die Kälte in meine Wangen beißt, ich ein leichtes Lächeln auf den Lippen trage und meine Kamera für einen Moment in meinen Fingern ruht, bevor sie wieder ihren Dienst leisten darf, denke ich trotzdem an dich. Wie es wäre, wenn du hier neben mir auf der Bank wärst, nur kurz, nur für diesen Moment, auch, wenn es mir gerade vollkommen genügt, allein hier oben zu sein. Mit mir selbst, weil ich diese Hütte schon ganz schön gut ausfülle, weil ich diesen Moment aufsauge, diese Ruhe, weil es mir ausreicht, genauso wie es gerade ist. Und als die letzten Sonnenstrahlen verschwunden sind, klettere ich wieder nach unten, schrumpfe wieder zusammen zu meinen 1,65m und streife noch ein bisschen an dem Fließ entlang, fange mystisch wirkenden Nebel und sich im Wasser spiegelnde Bäume im letzten dämmrigen Tageslicht ein, in dem alles so fremd wirkt. Archiviere diese Augenblicke in Fotos, halte diesen kurzen Ausflug nicht nur in Worten, sondern auch in Bildern fest, bevor ich wieder im Gewohnten verschwinde. Der Vollmond begleitet mich auf meinem Rückweg, während ich wieder die Arme ausbreite, als könnte ich fliegen und durch die Dunkelheit fahre. Mein Gesicht ist taub von der Kälte, aber in mir ist es warm.

(4) Kommentare

  1. Bene sagt:

    Sehr schöner Blogpost 🙂 Und so wahr – ein Perspektivwechsel kann einem so viel geben. Ich versteh das Gefühl gut, wenn man da oben sitzt. All der Raum, den man überblickt – das schafft Platz für die Gedanken, die sonst in dem allgemeinen Wirrwaer völlig untergehen.

    1. Charly sagt:

      Ja genauso versteh ich es auch! Manchmal tut so eine kleine Pause gut, um mal alles sacken zu lassen, alles aus etwas Abstand zu betrachten. Danke für deinen Kommentar Bene 😉 Würde mich freuen hier auch weiterhin von dir zu hören!

  2. Arian sagt:

    Das war sehr schön. Mehr kann ich dazu eigentlich gar nicht sagen. Du schaffst es, dass man sich mitgenommen fühlt, als wäre man grad selbst unterwegs gewesen. Es ist toll das mitzufühlen. Und der kleine Teil mit dem „wenn Du hier wärst“ war so schön verpackt, ein kleiner Teil eines großen Ganzen, der in dem Moment vielleicht nicht vordergründig, aber dennoch da ist.
    Danke 🙂

    1. Charly sagt:

      Danke dir Ari! 😀

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